Der Schwarzschild Kontrakt

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„Mutter, wie ist es, wenn ich sterbe?“

Die Frage durchschnitt die Stille der vergangenen Stunden. Erschrocken wachte die Mutter auf. Die Leuchtanzeigen der Geräte erhellten spärlich den Raum.

„Wie meinst du das?“

„Was passiert mit mir, wenn ich nicht mehr lebe?“

Nachdenklich richtete sich die Mutter in ihrem Stuhl weiter auf. Sie beugte sich zum Krankenbett vor. Liebevoll blickte sie in die müden Augen ihrer Tochter. Innerlich weinend, äußerlich gefasst. Sie konnte nichts sagen.

„Mutter, der Schmerz ist so groß“, drang es flehend aus dem kleinen Körper an das Ohr der Mutter.

Der Schweiß bildete große Perlen auf der Stirn. Die Mutter nahm das nasse Tuch und kühlte den Körper. Sanft legte sie ihre Hand auf die der Tochter. Sie sah, dass die Medikamente über die Schläuche aus den Geräten weiter in den Körper flossen.

„Die Schmerzen werden vergehen, die Medikamente brauchen einige Zeit.“

Es wurde still. Die Tochter fiel in einen Dämmerschlaf. Erschöpft sank die Mutter an die Lehne zurück, die kleine Hand weiter haltend. Tiefe Trauer breitete sich erneut aus. Ihre Tochter wird sterben; bald schon sterben, vielleicht in dieser Nacht. Die Gedanken pulsierten und fanden keinen Trost. Ihre Augen suchten im Krankenzimmer und fanden keinen Trost. Zur tiefen Trauer, kam die Einsamkeit. Die unendliche Einsamkeit bis zum Rest ihres Lebens, die sich jetzt schon abzeichnete und ihre Spuren vorwegnahm. Dann stand noch die Frage ihrer Tochter im Raum, wie es sei, wenn sie tot sei? Was sollte sie nur sagen?, was sollte sie nur sagen?, so schwang die Frage in ihrem Kopf, während sie in sich zusammen sank. Stille.

„Mutter, wie ist es, wenn ich sterbe?“

Die Stimme klang schmerzerfüllt, dünn und schwach.

„Carla, du wirst niemals sterben. In meinem Herzen wirst du ewig leben. Wir haben so viele schöne Dinge erlebt. Wir sind in der Sonne spazieren gegangen und haben die Samen der Pusteblumen fliegen lassen. Im Herbst haben wir das trockene Laub hoch in die Luft geworfen und uns in den Laubregen gestellt. Im Winter sind wir mit dem Schlitten gefahren und haben uns in den Schnee geworfen und Engel gemalt. Im Frühling haben wir die ersten Krokusse gepflückt und uns an den ersten Sonnenstrahlen vergnügt. All das werden wir in den kommenden Jahren auch machen.“

Der Schwarzschild Kontrakt

Der Schwarzschild Kontrakt, Zeichenstudie in Öl, Larisa Richard im April 2015

„Wie soll das gehen, wenn ich nicht mehr da bin?“

„Ich werde hier sein und du auf der anderen Seite. Ich werde an dich denken und die Erlebnisse noch einmal durchleben. Tief in mir bist du da.“

„Auf welcher anderen Seite werde ich sein?“

Die Medikamente entfalteten ihre Wirkung, der Schmerz war aus der schwachen flüsternden Stimme gewichen.

„Die Zeit wird immer langsamer vergehen, du kannst beruhigt sein, Carla. Von nun an wird die Zeit langsamer vergehen und die Schmerzen weichen. Wenn die Zeit still steht, wirst du durch den Horizont ins Licht gehen und die Dunkelheit hinter dir lassen. Schaust du zurück, so wirst du auch mich im Licht sehen.“

Die Worte drangen langsam zur Tochter vor.

„Mutter, versprich mir nicht zu sehr zu trauern. Wenn es möglich ist, gebe ich dir ein Zeichen, dass es mir gut geht.“

Die letzten Worte vielen ihr schwer, der Atem stockte unregelmäßig, der Mund war klebrig.

„Ich verspreche es dir, Carla. Ich werde mich daran erinnern und an die vielen schönen vergangenen Jahre.“

Das Gesicht der Tochter entspannte sich etwas. Die Anzeigen der Geräte signalisierten Beruhigung.

„Carla, wenn du schlafen willst, so schlaf.“

Das Versprechen wog schwer, aber es war gegeben worden und würde ihr in dem Moment zum Leitfaden werden, wenn Carla den Horizont ins ewige Licht durchschreitet. Es war der Kontrakt zwischen ihrem Leben und dem Tod ihrer Tochter. Der Gedanke, an das Versprechen nahm etwas Qual von ihr.

„Carla, ich liebe Dich.“

Die Mutter strich der Tochter zärtlich über die weißen Wangen. Der Atem war ganz flach, unregelmäßig und nunmehr selten. Stille.

„Ich liebe Dich“, drang ein letzter Satz aus dem kleinen Körper.

Bei gleißendem Sonnenschein wurde der helle Sarg in die trockene Erde gebettet. Am Abend blinkte der erste Stern als wollte er zwinkern. Das Versprechen wirkte. Die Mutter dachte an die  schönen vergangenen Jahre und an die vielen – in Gedanken gemeinsamen – kommenden Jahre, ihr Inneres war hell, denn die Schmerzen und das Leiden der Tochter waren vorbei. Ruhig blickte sie zu dem ersten Stern des Abends, der fortwährend blinkte.

Nach einigen Wochen ließ die Mutter einen Grabstein errichten, ohne Daten, einzig mit der Aufschrift

‚Carla Schwarzschild.’

Eine Kurzgeschichte von Dr. Ingo Hoffmann, Wuppertal im März 2015.

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