Arno Te Delco saß im Schein der untergehenden Sonne auf der Terrasse seines geerbten Hauses und blickte über die Felder Reinhausens in Richtung der Göttinger-Skyline.
Te Delco wirkte deutlich älter als er war.
Seine hagere Figur bedeckten unmodische Kleidungsstücke. Allesamt geerbt von seinem vor zwei Jahren verstorbenen Vater.
Er sah mit den alten Klamotten aus, wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten.
In Verbindung mit seinem faltigen Gesicht und den auffällig schwarz gefärbten, jedoch stark ergrauten Haaren, hatte er bei den gleichaltrigen Damen um die Fünfzig keinen Erfolg mehr.
Beim Zeitunglesen verdeckte den größten Teil seines Gesichts eine dicke schwarze Lesebrille aus Horn, die die Falten noch tiefer und ihn noch älter aussehen ließ.
Wenn er ausging – und das war sehr selten – dann blieb er meist für sich allein.
Ein Eigenbrötler, der sich hin und wieder in den wenigen Raucherclubs Göttingens in dem Rauch seiner vielen Zigaretten versteckte.
Gelber Zeigefinger und brauner Daumen waren zwei seiner Markenzeichen, ein anderes sein bellender Husten.
Der ständige, schon chronische Husten war durchdringend und führte dazu, dass sich die Menschen von ihm abwandten.
„Irgendetwas mit der Lunge“, hatte Te Delco einem Nachbarn mal erzählt, als er sich nach einer heftigen Hustenattacke röchelnd am Zaun festhalten musste.
Er erklärte sich den Husten beschwichtigend als Dauererkältung. Ein Selbstbetrug!
Te Delco drückte gerade den glimmenden Stummel der Zigarette im Aschenbecher aus und fischte mit der anderen Hand eine neue Zigarette aus der Schachtel, als Max in seinem Garten auftauchte.
Max wohnte vier Häuser weiter und war der zehnjährige Junge seiner Nachbarn. Er war das einzige Kind der Familie Müller.
Letztes Jahr in der Nacht zu Allerheiligen hatte Max ihm einen Halloween-Streich gespielt.
Arno Te Delco hatte danach lange an dem verstauchten Fuß herumlaboriert und Max mehrmals in seinen Gedanken als Rotzlöffel und freche Göre gescholten.
Ihr Verhältnis war gespannt und wenig nachbarschaftlich. Darum wunderte sich Te Delco über den Besuch.
„Na, was willst Du denn hier?“, fragte Te Delco grob.
Max sagte nichts, streckte die rechte Hand aus und überreichte Te Delco einen Brief.
Einen dicken, verschlossenen Brief in einem fensterlosen, weißen Kuvert.
An meinen Sohn stand als Adressat auf der Vorderseite und Ruben Te Delco als Absender auf der Rückseite.
Te Delco schaute von dem Brief auf und versuchte in den Augen von Max zu lesen.
Wie kam der kleine Rotzlöffel an einen Brief seines Vaters?, geisterte Te Delco im Kopf herum.
„Woher hast Du den Brief?“, fragte Te Delco irritiert.
Max zuckte mit den Schultern und sagte nichts. Wie ein Häufchen Elend stand Max da.
Scheint verschüchtert, interpretierte Te Delco die Körperhaltung. Vermutlich verschüchtert und beschämt wegen der Vorkommnisse zu Halloween im letzten Jahr, erklärte sich Te Delco die Stummheit von Max.
Er öffnete den Brief, faltete acht handgeschriebene Seiten auseinander, lehnte sich zurück und las die Anrede auf der ersten Seite.
Lieber Sohn!, stand da in der Handschrift seines Vaters.
Die Schrift war insgesamt etwas zittrig, aber es war die Handschrift seines Vaters.
Te Delco senkte noch einmal das Bündel Papiere und suchte den Blick von Max. Doch der Stand einfach nur da und blickte zu Boden.
In seiner Jugend hatte Te Delco nie viel mit seinem Vater zu tun gehabt. Auch in den letzten Lebensjahren war der ´Herr Professor´ auf langen Forschungsreisen unterwegs und sie hatten sich daher fast nie gesehen.
Von den Forschungen seines Vaters hatte Te Delco nicht viel mehr als Bruchstücke in Erinnerung.
Er selbst interessierte sich für Oldtimer und war bis zu seiner Frühverrentung in einer Autowerkstatt tätig gewesen. Ein Arbeitsunfall führte zur Arbeitsunfähigkeit und nach zahlreichen Amtsarztbesuchen in die Rente.
Bei dem Arbeitsunfall war die Wirbelsäule schwer in Mitleidenschaft gezogen worden und Te Delco hatte Glück, dass er nicht pflegebedürftig wurde.
Von seinem Vater hatte er damals keine Unterstützung erhalten.
Als der alte Ruben seinerseits pflegebedürftig wurde, hatte Arno sich verdrückt und ihn auch seinem Schicksal überlassen.
Nur das Erbe des Alten genoss er jetzt in vollen Zügen.
Der Wind pfiff frischer auf, eine Wolke schob sich vor die untergehende Sonne, die Nacht warf ihren langen Schatten voraus.
Irgendwie hatte Te Delco das dumpfe Gefühl, dass das die Schatten der Vergangenheit waren und ihn einholen wollten.
Der Brief war ein einziges Mysterium.
Arno Te Delco ignorierte Max, zündete sich eine weitere Zigarette an und las innerlich zitternd noch einmal von vorn.
Lieber Sohn!
Verzeihe mir, dass ich mich auf diesem Wege an Dich wende und mich nicht früher mit Dir in Verbindung gesetzt habe.
Meine intensiven Forschungen im Ausland haben es mir Zeit meines Lebens unmöglich gemacht, mit Dir ein richtiges Vater-Sohn-Verhältnis zu pflegen.
Dafür möchte ich mich zunächst einmal entschuldigen.
Vermutlich ist es für Dich fast unmöglich mir Vergebung für mein Verhalten zuteilwerden zu lassen. Doch ich hoffe, dass Du nach diesem Brieflein milder gestimmt bist.
Wie Du weißt, war ich lange Jahre meines Forscherlebens damit beschäftigt, das menschliche Bewusstsein zu erforschen.
Viele international aufsehenerregende Vergleichsstudien zwischen dem Bewusstsein von Primaten und menschlichen Probanden wurden während meiner Lehrtätigkeit an der Universität Göttingen in meiner Arbeitsgruppe erstellt.
Im Wesentlichen ging es am Anfang darum, die grundsätzlichen Mechanismen zu erforschen, wie das Bewusstsein über das eigene Wesen in der Struktur des Gehirns abgebildet wird.
Uns gelang eine einmalige Entdeckung: Ganz spezielle Botenstoffe im Gehirn erzeugen eine permanente, latent vorhandene Anregung des Axonhügels jeder Nervenzelle.
Damit ist gewährleistet, dass das Bewusstsein über das eigene Wesen auch im Schlaf nicht verloren gehen kann.
Der Vorgang ist weit komplexer als ich ihn Dir hier schildern kann.
Ich will Dich auch nicht mit zu vielen wissenschaftlichen Details langweilen, aber das Ergebnis ist wichtig: Wir haben es in unseren Experimenten geschafft, das Bewusstsein von Primaten durch Gabe einer seltenen Droge aus- und einzuschalten.
Diese Droge – ein Bestandteil des Saftes der schwarzen Janus-Beere – entdeckte ich auf einer meiner Forschungsreisen in Zentralasien.
Die Schamaninnen der Ultschen – eine Volksgruppe der Tunguso-Mandschuren – pressen den Saft aus der Janus-Beere und destillieren auf höchst eigentümliche Weise die Droge aus dem Saft.
Diese spirituellen Spezialistinnen der Ultschen sind vor allem für die Kinderseelen zuständig. Mit Hilfe der Droge aus der Janus-Beere versetzen sie auch heute noch die Kinder in Trance ohne Bewusstsein, um sie für die Jagd angstfrei zu machen.
Für die Kinder der Ultschen eine schmerzfreie Prozedur.
Hoch interessiert und elektrisiert nahm ich einige Proben und Samen des Janus-Strauchs mit nach Göttingen.
In meiner Arbeitsgruppe kultivierten wir in den folgenden Wochen die Pflanze und destillierten die Droge aus der Janus-Beere.
An den Primaten in unserem Labor erprobten wir die von den Schamaninnen entwickelte Prozedur, um das Bewusstsein der Primaten aus- und wieder einzuschalten.
Bald schon hatten wir bahnbrechende Erfolge.
Der Schritt zur Anwendung bei höheren Lebewesen schien uns unausweichlich.
Doch leider waren uns im westlichen Kulturkreis Versuche an menschlichen Probanden verboten.
Wir änderten also unsere Forschungsausrichtung und versuchten fortan, das Bewusstsein von einem Primaten auf einen zweiten Primaten zu übertragen.
Das ist ein ungemein komplexer Prozess und basiert im Kern auf der Droge aus der schon erwähnten Janus-Beere und einer speziellen Methode der Extraktion der Neurotransmitter aus dem Körper des ersten Primaten.
Die Übertragung funktionierte und der zweite Primat wurde zum Seelenempfänger des ersten Primaten.
Wieder schlossen sich zahllose richtungsweisende Veröffentlichungen über die Forschungsergebnisse in verschiedenen internationalen Fachzeitschriften an.
Der Ruhm schien unerschöpflich.
Doch leider hatte dieser Fortschritt einen unüberwindbaren Nachteil.
Vor der Extraktion der Neurotransmitter musste das Bewusstsein des ersten Primaten ausgeschaltet werden.
Weil diesem nach der Extraktion die entscheidenden Neurotransmitter fehlten, konnten wir sein Bewusstsein nicht wieder einschalten.
Der erste Primat wurde zu einem seelenlosen, leeren Geschöpf.
Dieses Problem konnten wir nicht lösen.
Trotzdem überlegten wir, ob es möglich sein könnte, dass dieses Verfahren der Bewusstseinsübertragung auch beim Menschen erfolgreich sein würde.
Ein Mensch also Seelenempfänger eines anderen Menschen werden könnte.
Glaube mir, es waren rein hypothetische Überlegungen und wir haben es niemals probiert. Zu viele ethische und gesetzliche Gründe sprachen dagegen.
Meine Emeritierung stand bevor und wir begannen unsere Forschung an diesem Punkt abzuschließen.
Da die Fördergelder fehlten, gab es auch keinen Nachfolger für mich auf diesem Forschungsgebiet.
Seit dem Tag meiner Emeritierung ist mir Woche für Woche immer klarer geworden: Über die vielen Forschungen bin ich alt geworden. Und in mir drang die Erkenntnis an die Oberfläche, dass ich Dich – meinen lieben Sohn – leider sträflich vernachlässigt habe.
Dennoch brauchte es weitere fast zehn Jahre, bis ich handeln hätte können.
Zu viele Restforschungen und anzufertigende Berichte hielten mich auch lange nach meiner Emeritierung noch gefangen.
Mit weit über siebzig hätte ich auf Dich zugehen können, doch da war die Brücke zwischen uns nur noch ein schmaler, brüchiger Steg und mich verließ abermals der Mut.
Ich spürte, in diesem Leben würde ich den Weg zu Dir nicht mehr finden.
Die Gebrechen wurden schlimmer und ich ahnte bereits mein eigenes Lebensende.
Da mir nicht mehr sehr viele Monate blieben, entschloss ich mich zu einem Selbstversuch.
Ich suchte und fand einen geeigneten Seelenempfänger für mein Bewusstsein.
Diesem wollte ich kurz vor meinem Tod den Extrakt meiner Neurotransmitter übertragen.
Du kannst Dir vorstellen, dass das für mich nicht nur unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten ein heikler Schritt war. Auch medizinisch war der Plan anspruchsvoll und riskant.
Ich musste binnen von Sekunden mein Bewusstsein ausschalten, sowie die Extraktion und die Übertragung auf meinen Seelenempfänger durchführen.
Ich hatte Angst vor dem Scheitern.
Schaffte ich es nicht, so wäre mein alter Körper seelenlos und ein Nichts bliebe von mir übrig.
Doch wenn ich es schaffen würde, dachte ich mir, welch eine einmalige Chance auf ein Weiterleben in einem gesunden Körper.
Angst und Besessenheit wechselten in mir ständig ihre Dominanz.
Mein Tod kam näher und die Zeit drängte.
Ich wollte unbedingt etwas erschaffen, was von mir übrig bleibt und weiterlebt, um mit Dir Kontakt aufzunehmen.
Allen meinen Mut nahm ich zusammen und so führte ich an einem schicksalshaften Tag die Übertragung auf meinen Seelenempfänger durch.
Glaube mir, lieber Sohn, meine Ziele waren über alle Maßen ehrbar.
Sollte sich dereinst mein Seelenempfänger bei Dir melden, wirst Du und nur Du ihn erkennen.
Dann werde ich Dir alles Weitere erklären und den Weg zu einem guten Vater – so wie Du ihn verdient hast – beschreiten.
Lebe bis dahin wohl und in Frieden mein Sohn.
Herzlichst, Dein Dich liebender Vater.
Die Sonne stand halb über den Bergen, der Aschenbecher auf dem Tisch quoll über, ein lauer Windzug umspielte das Haus und die Asche zerstreute sich wie bei einer Seebestattung im Seewind.
Te Delco war verwirrt und sichtlich ergriffen von den Zeilen. Er schaute auf in Richtung Max.
„Mein lieber Sohn“, begann Max und setzte fort, „Du musst mir helfen! Meine Eltern verstehen mich nicht mehr.“
Arno Te Delco starrte ungläubig auf den kleinen Menschen vor sich und rang um Fassung. Er war sprachlos.
„In diesem Körper stecke ich. Ich bin es, Ruben, Dein Vater“, erklärte Max.
„Dadurch, dass dieser kleine Körper mein Seelenempfänger ist, ist er auch mit allen meinen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet. Du musst mir helfen! Meine Eltern sind verzweifelt und schleppen mich von Arzt zu Arzt, weil sie eine psychische Erkrankung bei mir vermuten.“
„Das kann nicht sein! Du bist nicht mein Vater!“
„Sohn, glaube es. Stell mich auf die Probe! Frage mich etwas, was nur ich wissen kann.“
Arno Te Delco musste sich eingestehen, dass ihm das schwer fiel.
Was konnte er fragen, das nur sein wahrer Vater wissen konnte.
Von den genauen Forschungsinhalten seines Vaters hatte Arno keine Ahnung. Und auch über die Privatperson Ruben Te Delco konnte er nur sehr wenig sagen.
„Wie hieß meine Mutter?“
„Gerlinde. Sie starb als Du noch ein Kind warst. Erinnere Dich, wie wir sie zu Grabe getragen haben.“
Das war schon mal richtig, sinnierte Arno Te Delco und forschte in seiner Erinnerung nach weiteren Fragen.
„Wie war ihr Mädchenname?“
„Der Mädchenname meiner Frau war van Euten.“
Te Delco zündete sich eine weitere Zigarette an und hustete stark, wobei sich sein Kopf rot verfärbte.
Der Wind blies heftiger und zerstob die Rauchschwaden. Die Sonne berührte den Horizont und die Kälte kroch vom Boden aufwärts an die Knöchel.
Es kann nicht sein, dass dieser Bengel mein Vater ist, dröhnte es in seinem Kopf.
Seelenempfänger, so wie sie in dem Brief beschrieben stehen, kann es nicht geben. Oder doch?
Noch eine Frage fiel ihm ein. Die Antwort darauf konnte nur sein Vater wissen. Es war aber auch die letzte Frage die ihm als ein sinnvoller Test erschien.
„Wie hießen Deine Eltern?“
„Ich war durch die Kriegswirren als Baby schon Vollwaise und meine richtigen Eltern habe ich nie kennengelernt. Meine Pflegeeltern hießen Marul und Olena Te Delco.“
Arno Te Delco war überzeugt. Sein Vater, der ´Herr Professor´, hatte es tatsächlich geschafft, eine Methode zu entwickeln, um Menschen zu Seelenempfängern zu machen.
Wissenschaftlich ein Hammer. Für das Militär und religiöse Fanatiker ein willkommener Quantensprung zur nächsten Ebene der Kriegsführung.
Die Gefahr, die von Prof. Dr. Ruben Te Delco – alias Max Müller – ausging, war enorm.
Das wurde ihm schlagartig klar und sofort kreiselten die Gedanken wie wild in seinem Kopf herum.
Er musste handeln, die Situation kontrollieren.
Arno Te Delco nahm in den folgenden Tagen vorsichtig Kontakt zu Familie Müller auf. Unter Vorwänden besuchte er öfter die Nachbarn.
Mal war es die falsch zugestellte Post, die er herüberbrachte. Das Dankeschön der Müllers nahm er allerdings mit einem schlechten Gewissen an, denn er hatte die Post zuvor aus dem Briefkasten der Müllers geangelt.
Ein anderes Mal war es der Hinweis auf offenstehende Autofenster bei beginnendem Starkregen.
Arno Te Delco war bei seinen Vorwänden überraschend erfindungsreich.
Langsam, sehr langsam entwickelte sich durch die kleinen Kontakte eine gepflegte Nachbarschaft.
Nach einiger Zeit bot Te Delco an, sich um Max zu kümmern, wenn die Eltern berufstätig abwesend waren.
Herr und Frau Müller nahmen das Angebot freudig und gern an.
Max bekam einen Schlüssel und ging von nun an ein und aus in dem Haus von Arno Te Delco.
Die Halloween-Attacke klärte sich als Versehen und wurde schnell Schnee von gestern. Sie gewannen ein prima Verhältnis zueinander.
Abend für Abend unterhielten sie sich. Max berichtete aus den Erinnerungen von Ruben über die alten Zeiten und von längst vergangenen Begebenheiten die Arno schon vergessen hatte.
Viele Dinge seiner Jugend hatte er nicht mehr präsent und wurden ihm von Max lebhaft und detailliert geschildert.
Rubens Seelenempfänger Max wurde nach und nach ein fester Bestandteil von Arno Te Delcos Leben.
Sein vorher armseliges Leben wandelte sich zum Guten, je mehr er die Gespräche mit Max pflegte.
Te Delco war glücklich. Er war glücklich, weil er auf diese Weise doch noch das Gefühl bekam, einen Vater zu haben. Auch wenn das äußere, körperliche Größenverhältnis etwas anderes vermuten ließ.
Der chronische Raucherhusten und die Lungenkrankheit wurden bei Te Delco binnen weniger Monate rapide schlimmer.
Jede Zigarette führte zu einem fast nicht enden wollenden, eruptiven Husten.
Das Atmen fiel ihm schwer und sein Herz stolperte bedrohlich in der Brust.
Die Krankheit schritt fort und bald schon nahm er kaum noch Essen zu sich.
Binnen weniger Wochen war seine dürre Gestalt nur noch überdeckt von einer Haut wie Pergament.
Der selbstzerstörerische Lebenswandel forderte seinen Tribut.
Tiefliegende Augen über felsigen Wangenknochen blickten ihn eines Sonntags aus dem Spiegel an.
Arno Te Delco erkannte die Zeichen und handelte schnell.
Bereits am Montagabend hatte er einen Termin bei einem Notar. Dort diktierte er sein Testament zur Niederschrift und setzt Max Müller als Haupterben ein. Die Eltern von Max bestimmte er in dieser Sache zu dessen Vermögensverwalter.
Ein halbes Jahr später verstarb Arno Te Delco. In ihm war in den letzten Monaten das Bewusstsein entstanden, einen Vater gehabt zu haben.
Das gab ihm Trost.
Er war zum Zeitpunkt seines Todes mit sich und der Welt im Reinen.
Es war ein friedliches Einschlafen, angstfrei und ohne Schmerzen.
Familie Müller wurde ein paar Wochen später vom Notar zur Testamentseröffnung eingeladen.
Und so kam es, dass eine hoch verschuldete Familie Müller mit ihrem sehr intelligenten und schauspielerisch außerordentlich begabten Sohn Max in das Haus desjenigen Mannes einzog, den Herr und Frau Müller zuvor jahrelang gepflegt hatten.
Die Pflege des alten Ruben geschah damals nur zum Teil aus Nächstenliebe. Sie hatten immer die begründete Hoffnung gehabt, den alten Ruben zu beerben.
In allen Einzelheiten erzählte ihnen der alte Ruben in den letzten Jahren vor seinem Tod von seinen Reisen und Forschungen.
Sie hörten und erduldeten diese Monologe täglich aufs Neue mit geheucheltem Interesse.
Der wiederholte Bericht über die gescheiterte Forschung auf dem Gebiet Seelenempfänger war für Familie Müller der Gipfel der Qual.
Weil es ihnen nicht richtig erschien, Seelen von Mensch zu Mensch zu übertragen.
Nach all den Opfern, die sie erbrachten, war es für sie bitter und demütigend, dass der alte Ruben seinem nichtsnutzigen Sohn Arno alles vererbte.
Die Krönung der Unverschämtheit aber war, dass der Alte ihnen sämtliche handgeschriebenen Forschungsberichte aus seiner aktiven Zeit an der Universität Göttingen vermachte.
Berge von fein säuberlich beschriebenen Moleskine-Notizbüchern übergab der Alte ihnen, weil er sie als aufmerksame Zuhörer wahrnahm und dachte, sie würden sich so sehr für seine Forschung interessieren.
Was für eine bodenlose Frechheit und abgrundtiefe Ungerechtigkeit, dachte Frau Müller damals.
Doch durch die Bücher waren sie in gewissem Sinne Seelenempfänger des alten Ruben geworden.
Nach der Seele gehörten ihnen jetzt auch das Haus und das Vermögen des Alten.
Die Schmach war getilgt.
Familie Müller saß auf der Terrasse ihres geerbten Hauses im gleißenden Abendrot der untergehenden Abendsonne und sah hoffnungsvoll einer rosigen Zukunft entgegen.
Eine Kurzgeschichte von Dr. Ingo Hoffmann, Wuppertal im Juli 2015.