Mozart – Ein Besucher aus ferner Zeit
Von der mäßig beheizten Küche aus schaute ich den dicken, nassen Schneeflocken zu, wie sie sich zu beeilen schienen, den Balkonboden zu erreichen und mit den bereits vor ihnen dort angekommenen eine dünne Matschschicht bildeten.
Das Kalenderblatt sprach vom 20.01., aber gefühlt war es für mich schon Ende Februar, der Art des Winterwetters nach zu urteilen. Im Radio lief gerade ein Hit des vergangenen Sommers. In ihm schwärmte eine Sängerin von ihrer ersten Liebe in Italien, die allerdings ein trauriges Ende nahm. So ist die Liebe – unberechenbar und manchmal entmutigend.
Der Anblick des Schnees holte mich vom sonnigen Süden in die graue Wirklichkeit meiner Stadt zurück.
Ich wandte mich von der Balkontür, die Kücheninneres von Balkon trennte, ab und wieder dem schmutzigen Geschirr in der Spüle zu. Es war mal wieder an der Zeit, den aufgetürmten Haufen von Tellern, Tassen, Behältnissen sowie diagonal eingepassten Brettchen und Besteck, das die verbliebenen Zwischenräume auffüllte, gesäubert an dafür vorgesehene Plätze zurück zu stellen und legen. Das Wasser war bereits erkaltet und zudem dreckig, so dass ich zunächst das auf dem Ablaufbrett liegende Geschirr mittels des in Irland hergestellten blau-rot karierten Leinentuchs abtrocknete, verräumte und dann frisches Wasser einließ.
Wegen des Geräuschs fließenden Wassers und des simultan arbeitenden elektrischen Boilers hörte ich das Klopfen an der Scheibe zunächst nicht. Gerade wischte ich über einen Essteller, als es erneut klopfte und ich diesen Laut wahrnahm, wenn auch nur gedämpft wegen des Radios. Ich wandte mich in Richtung Glasscheibe um, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen und erst recht niemanden sehen.
Wen erwartete ich dort auch?
Wahrscheinlich würde Albert Einstein mal schnell auf einen Plausch vorbei schauen und die durch mein Geschirr verdrängte Wassermasse in der Spüle berechnen. Theoretisch möglich…. Ich wohnte im Hochparterre, und der Balkon war nicht direkt vom Boden aus zu erreichen. So ließ ich die Sache zunächst auf sich beruhen und wandte mich wieder meiner Hausarbeit zu.
Kurz darauf erklang das Geräusch erneut, und ich glaubte schon Halluzinationen zu haben und mich aufgrund dessen auf dem besten Weg in die geschlossene Anstalt zu befinden, als ich etwas vor dem Glas bemerkte, das dort zuvor nicht gewesen war. Fast wäre mir ein Teller aus der Hand gerutscht, als ich eine menschliche Gestalt wahrnahm. Hastig näherte ich mich der Glasscheibe und drehte bereits den Türgriff als ich stutzte.
Dieser Mensch entsprach in Kleidung und Frisur so gar nicht dem, was auf unseren Straßen herum lief. Zum Glück siegte in diesem Moment mein gesunder Menschenverstand über meinen Willen, in einem Lexikon nachzuschlagen, welcher Epoche genau diese Aufmachung entsprach. Ich öffnete und herein stolperte mit all dem nassen Schnee, der auf ihm lag, ein ca. zehnjähriger Junge mit rotgefrorenen Händen und kräftig roten Wangen.
„Mozart – mein Gott!“, stieß ich hervor, „was tust Du denn hier?“
„So a depperte Frong! Loß mi heut amoi nei. Mi friert´s!”
Er drängte sich an mir vorbei durch die Tür und begann, sich den Schnee von Jacke und Kniehose zu klopfen. Alles landete auf den Fliesen der Küche und bildete dort im Nu Pfützen. Ich stand vor Verblüffung wortlos mitten im Raum bis ich nach einer gefühlten Stunde die Sprache wiederfand. Ob ich vielleicht Wasser für ein Bad erwärmen könne, wollte er wissen und ob genug Feuerholz im Haus sei. Das entlockte mir dann trotz der kuriosen Situation ein Lachen.
„Aber hier ist doch eine Zentralheizung“, entfuhr es mir.
Dann dämmerte mir, dass dieser Junge mit dem Begriff nichts anfangen konnte.
„Mein lieber Mozart, sei herzlich bei mir willkommen und fühl dich wie zu Hause, nur halt ohne Kamin. Du solltest Dich jetzt mal ganz fix aufwärmen, bevor wir erzählen. In der Zeit mache ich Dir etwas zu essen. Was hättest Du denn gerne?“
„Host an Kaiserschmarrn?“
„Nicht wirklich, aber so etwas Ähnliches krieg ich sicher hin.“
„Wieso? Mit wem hobt´s Ihr Krieg?“
„Nein, Amadeus, wir führen gegen niemanden Krieg. Das bedeutet, ich schaffe das – hinkriegen.“
Er nickte, wohl nicht ganz überzeugt. „Woast wos des is, a Schmarrn?“
„A Mehlspeisn”, versuchte ich seinen Dialekt ein wenig nachzuahmen.
„Sehr gut”, konterte der Junge.
„Daraus kann noch wos wer´n.“
Durch Küche und Flur führte ich den Staunenden ins Bad. Er entdeckte das Telefon und wollte wissen, was das sei.
Ich drang jedoch auf das wärmende Bad, legte ihm Handtücher heraus und zeigte ihm, wie mit der Duscharmatur über der Badewanne umzugehen sei.
„Während Du Dich wäschst, versuche ich mal trockene Kleidung in Deiner Größe zu finden. – Dauert vielleicht einen Augenblick“, fügte ich vorsichtshalber mit leiser Stimme hinzu.
„Hoast an Buam, der so oid is wie ich?“
Indem ich das Personalpronomen etwas zu lang aussprach, warf ich spitz zurück: „Ich habe gar keine Kinder!“
Mozart überging diesen Ton, der mir nachträglich Leid tat.
„Aber wenigstens ein Pianoforte hast!“
Wie hatte er das denn auf dem Weg ins Bad entdeckt?
„So“, drängte ich, „jetzt aber ab mit Dir unter die Brause! Inzwischen frage ich bei der Nachbarin an, ob sie etwas Kleidung von ihrem Sohn abgeben kann.“
Mir war eingefallen, dass ich es bei Frau Schedler zwei Stockwerke über mir mal versuchen könnte, da sie einen neunjährigen Sohn hatte. Konnte ich Mozart denn jetzt allein lassen mit all den ihm unbekannten Dingen? Was, wenn er das Bad unter Wasser setzte? Ich ging noch einmal zur Badtür und fragte durch sie hindurch, ob alles in Ordnung sei.
„Ois in bester Ordnung“, kam es zurück.
So wagte ich den Gang zur Nachbarin.
„Was verschafft mir denn die Ehre Ihres Besuchs?“, fragte sie mit ironischem Unterton, da wir üblicherweise nicht so viel miteinander zu tun hatten.
„Brauchen Sie ein Ei oder eine Tasse Mehl?“
„Im Moment komme ich wegen etwas anderem, aber danke für das Angebot. Ich wollte vielmehr fragen, ob Sie mir einen Satz Kleidung von Paul leihen könnten, weil ich nämlich unerwartet Besuch bekommen habe.“
Auf dem Weg nach oben hatte ich mich entschlossen, erst mal so wenig wie möglich über meinen Gast zu erzählen.
„Ist was schmutzig geworden?“, wollte Frau Schedler wissen.
Ohne meine Antwort abzuwarten, lief sie in Richtung Kinderzimmer und kam wenig später mit einer Jeans und einem Wollpulli wieder.
„Verträgt der Junge die Wolle direkt auf der Haut? Sonst gebe ich Ihnen noch ein T-Shirt dazu. Ist doch ein Junge, oder?“
Verlegen suchte ich meine Worte zusammen.
„Ja. Also, die Sachen sind mehr nass als dreckig geworden. Deshalb bräuchte er auch Socken, Unterhose, Unterhemd und so … Ginge das?“
Ich kniff die Lippen zusammen und setzte einen Unschuldsblick auf. Kurz darauf hielt ich alles Notwendige im Arm; bedankte mich und stieg wieder nach unten. Im Bad hörte ich Wasser laufen. Ich war beruhigt. Dann das Geräusch des Haarföns. Die Beruhigung endete abrupt.
Ohne nachzudenken stieß ich die Badtür auf, schreiend: „Mozart, mach den Fön aus!“
Wolfgang Amadeus kniete völlig versunken vor der Badewanne, die jetzt zur Hälfte voll Wasser gefüllt war und in der er zuvor geduscht hatte und beobachtete fasziniert das Spielzeug-Segelboot, dessen weiße Takelage sich im Wind blähte. Ich schimpfte trotz des hübschen Anblicks weiter und zog den Stecker des Föns aus der Wand. Mozart schaute mich verärgert an.
„Warum lost den Wind nicht?“
„Weil das zusammen mit dem Wasser viel zu gefährlich ist!“
„Wieso denn?“, fragte er in ungespielter Unschuld.
Mir ging langsam auf, dass der Junge von Strom ja nichts wusste und schon gar nicht von der Tod bringenden Kombination zwischen Wasser und Strom.
„Weil…“, setzte ich an.
Erst jetzt fiel mir auf, dass es im Bad sehr warm war und Amadeus völlig nackt vor der Wanne hockte. Seine Haare waren sehr kurz gehalten, dunkelbraun und nun vermutlich nass. Die weiße Zopfperücke mit dem schwarzen Beutel für jenen Zopf lag zusammen mit Kniehose, Rock und einer zweireihig geknöpften Weste auf dem Schemel zwischen Waschbecken und Wanne. Des elektrischen Winds beraubt, pustete mein Gast nun von der Seite gegen das Boot bis der starke aus dem Hahn kommende Wasserstrahl es zum Kentern brachte.
„So“, meinte ich resolut und ließ die Erziehungsbeauftragte durchscheinen, „zieh´ Dir jetzt mal was an! Ich bring´ Dir die Sachen, die uns eine Nachbarin geliehen hat.
„I mog aber koa Maderlkleid!“, protestierte Mozart.
„Keine Angst“, beruhigte ich ihn, „Du wirst hinterher so aussehen wie die meisten Jungen in Deinem Alter heute.“
Beladen mit einer kompletten zeitgemäßen Erstausstattung für einen dem Rokoko entsprungenen Jüngling betrat ich das Bad wieder. Ich ließ ihn alles vor mir anziehen um zu sehen, ob es in etwa passte. Größe 164 bzw. S war also o.k. Jetzt mussten wir seine nassen Kleider irgendwie trocknen. In den Trockner konnten wir sie nicht stecken. Das würden Samt, Damast, Spitze und Goldborte wohl eher nicht gut vertragen.
„Wie trocknet Ihr Deine Kleidung denn zu Hause?“, wollte ich wissen.
„Woaß i net – des mochat die Rosa.“
Wer auch immer diese Frau war, ich breitete die Teile großflächig auf Wäschespinne und Handtuchhaltern aus. Dann ich musste mich um das Essen kümmern, woran mich Mozart auch in diesem Moment erinnerte.
„Wann essand mir?“, fragte er.
„Gib mir ein paar Minuten“, bat ich.
„Schließlich habe ich ja erst mal die Kleidung für Dich besorgen müssen.“
„Kann i mi derweil ans Pianoforte setzen und a bisserl komponiern?“
Ohne meine Antwort abzuwarten, stürmte Amadeus aus dem Bad und rannte ins Wohnzimmer. Ich sah ihm zu, wie er den Klavierschemel höher drehte und auf ihn kletterte.
Nach einigen rasanten Fingerübungen hörte ich, während ich die Zutaten für Pfannkuchen verrührte, wie er wohl einige seiner Werke spielte. Ich erkannte den ein oder anderen Tanz, den auch ich schon geübt hatte.
„Spuist a?“, rief er durch die Wohnung.
„Ja“, meinte ich, „als Kind hatte ich Unterricht und später habe ich einfach die Stücke von früher immer wiederholt. Wie wär´s, wenn Du mir nach dem Essen etwas beibrächtest?“
„I komponier wos für Di! Mogst?“
Wie konnte ich da widerstehen?
„Und unser Essen?“, fragte ich vom Flur aus.
„Gait rasch! Kim amol her!“, forderte mich Wolfgang auf.
Der Herd war noch nicht angeworfen, so dass ich mir die Zeit problemlos nehmen konnte. Ich zog einen Stuhl neben seinen Hocker und lauschte.
„Brauchst Du Notenpapier?“, wollte ich wissen.
„Wannst welches host – war nicht schlecht“, stimmte der Junge zu.
Ich schaute zwei der Notenheftstapel auf dem Instrument durch und gab ihm das Papier mit einem dünnen schwarzen Filzstift.
Amadeus wollte wissen: „Wos ist des?“
„So wir Ihr die Feder in die Tinte taucht um zu schreiben, ist das direkt alles in einem. Da, wo das schwarze Stück an das orangefarbene stößt, teilt sich der Stift. Zieh mal an beiden!“
Er zog, roch an der schwarzen Spitze und verzierte seinen rechten Nasenflügel. Anschließend schrieb er, nachdem er sich eine feste Unterlage besorgt hatte, die er auf die Notenablage im Klavierdeckel stellte. Er musizierte – spielte, schrieb, sang, summte, schien mich neben sich zu vergessen. Ich kümmerte mich weiter um das Essen und rief ihn nach einiger Zeit.
„Können wir essen? – Ich hab´ Hunger“, gab ich vor um ihn zu locken.
Mozart spielte seine Komposition noch einmal schnell durch und kam in die Küche gerannt.
„Hmmm … des riecht guat!“, lobte er.
„Und – schmeckt´s denn auch so?“, fragte ich neugierig, als er sich über den Pfannkuchen hermachte.
Mampfend nickte er und schien zufrieden. Ich zeigte auf verschiedene Flaschen mit Säften und Mineralwasser, die ich auf dem Tisch aufgebaut hatte.
„Milch wäre auch hier. Was möchtest Du trinken?“
„Außer der Milli kenn i nix! I mog des do!”
Er zeigte auf das Etikett mit den Äpfeln. Einen großen Pfannkuchen schaffte er und nahm mir noch ein Stück von meinem ab. Als Nachtisch bot ich ihm Obst an und ließ ihn einen faszinierten Blick in den Kühlschrank werfen.
„Des is ja vui keiter ois im Kella!“, stellte er verblüfft fest.
„Die Rosa hätt´ so oin sicher gern. Dann müsst´ sie nicht immer alles hoch und runter schleppen. Immer hot´s Schmerzen im Buckel!“
Eigentlich wäre es jetzt an der Zeit gewesen ihn zu erinnern, dass er einer völlig anderen Epoche entsprungen war und ihm zu offenbaren, dass er in seinem Leben wohl kein Gerät, das sich Kühlschrank nennt, kennen lernen würde – zumal dieses Leben leider viel zu kurz sein und, wenn denn alles stimmt, was Forscher meiner Zeit ermittelt haben, unschön enden würde. Allerdings hatte ich das Gefühl, eine Seifenblase platzen zu lassen, wenn ich all dies täte.
Ich ließ es sein, denn die Vorstellung, diesen aufgeweckten, begabten und lieben Jungen noch eine Weile bei mir zu haben, war mir angenehm. (Um es vorwegzunehmen, wir hatten noch einen knappen Tag lang das Vergnügen miteinander. Am zweiten Tag kontrollierte ich meine Bemerkungen nicht gut genug – und so passierte das, was ohnehin von der Familie Mozart geplant gewesen war, für mich sehr plötzlich.)
Nachdem Amadeus sein tägliches Kompositions- und Klavierübungspensum offenbar erfüllt hatte, schlug ich vor, noch eine Weile hinaus zu gehen.
„A guate Idee. Oba die Schuh … .“ Mozart runzelte die Stirn. „Im Stiegenhaus stehen vielleicht welche?“, überlegte er laut vor sich hin.
„Wir können doch nicht einfach jemandem die Schuhe wegnehmen!“, empörte ich mich.
„I ko mei eigene oziehn“, schlug er vor.
Von der Tatsache abgesehen, dass jene immer noch nass waren, passten sie doch viel besser zu einer Kniehose als einer Jeans. Wir einigten uns schließlich darauf, dass er mit mehreren Lagen Socken ein Paar Gummistiefel Größe 38 von mir überzog und wir in einem nahe gelegenen Schuhgeschäft Nassschnee geeignetes Schuhwerk für ihn erwarben. In dem Moment, in dem ich die Wohnungstür abschloss, kam Frau Schedler mit ihrem Sohn nach oben.
Das Nachbarskind schaute recht verblüfft und platzte dann heraus: „Mama, der hat meine Sachen an!“
„Sie hat´s mir gebn!“, konterte Amadeus entrüstet.
„Ist alles in Ordnung, Ihr beiden.“ Zu Paul gewandt, fügte ich hinzu: „Deine Mama und ich haben das ausgemacht, weil Wolfgangs Kleidung komplett nass ist und er keinen Ersatz dabei hat.“
Paul schien es letztlich egal zu sein, aber er stolperte über Mozarts Namen.
„Wolfgang ist aber ein komischer Name! Und außerdem sprichst Du nicht so wie wir!“
Das fing ja gut an. Ich fühlte mich verpflichtet, Mozarts Verteidigung zu übernehmen und merkte an, dass er erstens hier zu Besuch sei und zweitens von weit her komme.
„Rat doch mal, wo Wolfgangs Zuhause ist, Paul!“, forderte ich ihn auf.
„Ach, keine Ahnung“, erwiderte Paul lustlos, „Bayern oder so… vielleicht auch Österreich.“
Bevor Mozart irgendetwas sagen konnte, was ihn verriet, lenkte ich schnell ein: „Genau – letzteres trifft´s ganz gut“, stimmte ich in vermindertem Tempo mit vorgestülpten Lippen zu und nickte.
„Ich schlage vor“, meinte Frau Schedler versöhnlich, „wir gehen gleich zusammen in die Bäckerei Krämer und trinken einen Kakao – die haben doch lange geöffnet.“
„Hast Du Lust, Wolfgang?“, wollte ich wissen.
„Scho, oba die Schuh…!“
„Ach, richtig“, warf ich ein. „Wir müssten vorher noch schnell was erledigen. Treffen wir uns doch bei Krämer in einer halben Stunde!“
„O.k.“, stimmte die Nachbarin zu.
„Wos heißt…?“, setzte Mozart gerade an, wurde sich dann der Unangebrachtheit seiner Frage bewusst und fügte geistesgegenwärtig hinzu: „Ach, scho gut.“
Im Schuhgeschäft wurden wir schnell fündig und erwarben ein solides Einzelpaar günstiger Gore-Tex-Stiefel, die Mozart auch gleich anbehielt, so dass wir die Gummistiefel in einer Plastiktüte aus dem Laden trugen.
„ … Und wir haben auch noch ein Geburtstagsgeschenk für meine Schwester gekauft“, erläuterte Frau Schedler, während sie uns den Bildband über Jugendstilarchitektur in Wien in einer Ecke der Krämerschen Bäckerei zeigte.
„Hot´s wie i morgen Geburtstag?“
„Nein, erst am 24. Januar“, stellte die Nachbarin richtig.
Ich überlegte, ob mein Gast die Schuhe nun als Geburtstagsgeschenk auffassen würde, wobei ich fast sicher war, dass zu seiner Zeit wegen der großen, kinderreichen Familien, solche Anlässe nicht gefeiert wurden wie das heute in unserer Gesellschaft üblich ist, und sicher auch nicht groß Präsente gehandelt wurden. Aber erstens war ich nicht sicher, zweitens war das egal, denn es hatte mir Freude gemacht, dem Jungen die Stiefel zu schenken.
„Und wie alt wirst Du?“, fragte Paul.
„Zwölf – und Du? Wie oid bist?“
„Elf – bis zum nächsten Mai“, präzisierte der Nachbarsjunge.
Ich musste gedanklich abwesend gewesen sein und auch so gewirkt haben, denn Frau Schedler wedelte plötzlich mit der Hand vor meinem Gesicht herum und riss mich dabei aus meinem Traum.
„Waren Sie denn schon mal in Wien oder nicht?“, fragte sie, schon etwas ungeduldig, da sie die Frage offensichtlich bereits vorher gestellt hatte.
„Nein, noch nicht, aber ich würde gerne mal dorthin reisen“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Komm uns doch besuchen in Salzburg – des is ah schee!“, lud mich Mozart ein.
„Oh ja, das täte ich gern!“, beeilte ich mich zu sagen.
Sicher würde das nie der Fall sein – nicht sein können, technisch gesehen. Mir kamen plötzlich Zweifel an der Echtheit Mozarts. Vielleicht hatte sich nur ein Junge verkleidet und sich einen Scherz erlaubt. Andererseits … die Begabung im Klavierspiel … zu Hause würde ich sicher vergessen, es zu tun. Daher bat ich Frau Schedler mir kurz ihr Smartphone zu geben, weil ich etwas googeln wollte.
Ich gab ein: Mozart + Lebensdaten. 21.01.1756 – sein Geburtsdatum. Eindeutig. Morgen würde dieser 21. Tag in einem Januar, 256 Jahre später sein.
Unglaublich!
Plötzlich verlor ich jegliches Gefühl für Zeit und Raum – und wunderte mich, dass eine Bedienstete der Bäckerei uns freundlich bedeutete, dass gleich geschlossen würde.
„Haben Sie noch zwei, drei nicht zu trockene Teilchen? Ich würde gerne noch etwas mitnehmen!“
Man hatte und wir trugen das Backwerk für den folgenden Tag nach Hause. Ich nahm mir vor, sehr früh aufzustehen, um selbst noch einen Marmorkuchen zu backen, denn Zutaten dafür hatte ich immer im Haus.
„Amadeus, was möchtest Du noch machen? Sollen wir etwas zusammen spielen, oder willst Du lesen, etwas am Computer…?“
„Wos ist des – Combiuta?“, fiel er mir ins Wort.
Was sollte ich ihm da groß und breit erklären?
„Komm, ich zeig ihn Dir“, bot ich an.
Mozart staunte und verstummte. Nach einer Weile fragte er: „Kann des Ding a musiziern?“
Wir gingen auf Youtube und er schrieb mit dem Zeigefinger mühsam suchend Bach Jesu meine Freude in das dafür vorgesehene Feld. Ich zeigte ihm die Enter-Taste und aktivierte den Lautsprecher. Wir wählten Marie-Claire Alain an der Orgel des Straßburger Münsters und hopp, erklang der Choral.
„Der Mann spuit oba schnell!“
Ich korrigierte: „Nein, da spielt eine Frau aus Frankreich.“
„Spuit´s jetzt grad? Wie kimt die Musi hierein? Warum kann das eine Frau tun?“
Fragen über Fragen, liebes Kind – natürlich. Ich erklärte ihm, dass die Musik, als die Frau in der Kirche spielte, in ein künstliches Gedächtnis geleitet worden war, das man jederzeit zurückholen und sich anhören kann.
„Ja“, seufzte ich, „soweit sind wir heute schon. Es ist so unglaublich Vieles möglich – die Menschen haben ganz viele Dinge, Mechanismen und Prozesse erfunden …“
„Und hant´s glücklicher mit oi dem als wir?“
Eine ganz entscheidende Frage, zweifellos.
„Du bist sehr klug, Wolfgang“, lobte ich, „dass Du in Deinem Alter solche Überlegungen anstellst. Glücklicher sind wir dadurch nicht unbedingt, da hast Du Recht. Vieles ist einfacher geworden oder kann schneller getan werden. Arbeiten sind weniger schmutzig, genauer, weniger gefährlich. Oder nimm die Musik, zum Beispiel. Wenn Du willst, kannst Du sie perfekt machen!“
„Oba dann musst Dich gar nimmer bemüh´n. Nicht perfekt is doch vui schöna, meinst nicht?“
„Wir denken da wohl ähnlich, Amadeus. Natürlich sollte sich Jeder anstrengen, Musik so lebendig und genau zu spielen oder singen, wie sie der Komponist vorgesehen hat. Stell Dir mal vor, Hausmusik wäre etwa perfekt! Das passt doch gar nicht zu ihr. Mal davon abgesehen, dass viele Kinder heute bestimmt gar nicht mehr wissen, was das ist, lebt sie – da sind wir uns einig- gerade dadurch, dass sie nicht perfekt ist, sondern die Menschen improvisieren und sich aufeinander abstimmen“, pflichtete ich ihm bei.
Nach und nach gewann ich den Eindruck, dass Mozart nicht zufällig mein Gast geworden war, da wir in mancherlei Hinsicht auf gleicher Wellenlänge zu liegen schienen. Ich sprach jedoch nicht zu ihm davon, da ich Angst hatte, etwas zu zerstören, was sich in den vergangenen Stunden so angenehm aufgebaut hatte. Gefühlsmäßig war der Junge schon etliche Tage bei mir, und ich fürchtete mich vor dem Augenblick, wieder ohne seine kindlich- wissbegierige Begleitung zu sein. Noch lange saßen wir, eingehüllt in Decken bei Kerzenschein, zusammen, tranken Tee und Kakao, aßen eine Suppe und erzählten. Ich erfuhr viel über das Leben im Salzburg des späteren 18. Jahrhunderts, über Musik im Allgemeinen und Mozarts Vorlieben und Abneigungen im Besonderen.
Auch war er neugierig, etwas über unsere heutigen Lebensbedingungen, Familienstrukturen, Arbeit und andere Dinge zu lernen. Nachdem er schon einige Male heftig gegähnt und gegen das Zufallen seiner Augenlider angekämpft hatte, konstatierte er plötzlich: „I bin müd. I mog schlofa!“
Ich ließ ihn zwischen einem großen Bett und der ausziehbaren Couch wählen.
„Das Bett is für Di – I geh aufs Sofa.“
Wir wünschten uns eine gute Nacht, und ich setzte beim Verlassen des Zimmers noch einen Leuchtpunkt in die Steckdose neben der Tür.
„Zuhaus hob i an Nachttopf am Bett. Des is praktisch.“
„Wenn Du in der Nacht raus musst, gehst Du einfach ins Badezimmer. Weißt Du noch, wo der Lichtschalter ist?“
Er wusste.
„Und – schau mal – hier …“ Ich winkte Mozart zu mir in den Flur. „ … ist das große Licht. Eine kleine Lampe lasse ich hier draußen an.“
Der Junge war einverstanden. Als ich eine Viertelstunde später noch einmal durch den Türspalt lugte, sah ich den Knaben neben dem Leuchtpunkt sitzen, mit Notenpapier auf dem Schoß und eifrig schreibend. Ich dachte an seinen morgigen Geburtstag und mein Vorhaben, früh am Morgen einen Kuchen zu backen. So legte ich mich hin, konnte aber nicht gleich einschlafen und ließ den Tag noch einmal Revue passieren.
Die Müdigkeit musste mich dann aber doch übermannt haben, und ich schreckte mit dem Klingeln des Weckers um sechs Uhr zusammen.
„Der Kuchen! Jetzt aber raus aus den Federn“, sprach ich halblaut zu mir selbst.
Mozart schien noch in tiefem Schlummer zu liegen. Ich schloss seine Tür und ging ins Bad. Beim Abmessen des Mehls hörte ich hinter mir ein Geräusch.
„Wos mochst?“
„Jedenfalls nicht Klavier spielen“, antwortete ich, umarmte Mozart spontan und wünschte ihm alles Gute zum Geburtstag: „Amadeus, Du bist so begabt! Ich wünsche Dir, dass Du immer auf Menschen triffst, die das zu schätzen wissen und Dich unterstützen!“
Auf die Arbeitsfläche zeigend erklärte ich, dass ich einen Marmorkuchen backte.
„Magst Du mir helfen oder erst frühstücken?“
Mozart gestand: „I hob an Hunger, so groß wie der Gaul vom Franz!“
„Gut, ich kenn zwar weder Franz noch seinen Gaul, aber dann sollten wir jetzt erst essen und gleich am Kuchen weiterarbeiten.“
Mit viel Appetit machte sich der Junge über Müsli, Knäckebrot, Käse, Wurst und Marmelade her. Ich trank meinen Tee, aß Schwarzbrot und schaute ihm belustigt zu. An der Herstellung des Kuchens war mein Gast nur sehr kurz beteiligt, denn dann fiel ihm ein: „I hob an Stück Musi für Dich gschriem. I spuis Dir vor, ja?“
Und schon saß Amadeus am Klavier, spielte den Kontratanz mit Variationen und sang dazu.
„Weil i ja zwoa Tag Ferien…“. Er unterbrach sich, die linke Hand vor den Mund schlagend. „Oh weh! Das sollt i ja nicht verraten, hat mein Herr Papa gsogt. Na ja, jetzt weißt Du´s hoit.“
Ich hakte nach: „Ja und dann?“
„Dann holt mich der Franz hier ab!“
Wie selbstverständlich sagte er das.
„Haben wir denn noch Zeit für den Kuchen heute Nachmittag?“, fragte ich vorsichtig.
„I glaub, er kimt erst am Oamd, der Franz. Derwei spui i noch a weng!“
Und schon saß er wieder am Pianoforte, wie er es nannte.
„Amadeus“, wagte ich ihn zu unterbrechen, „gerne würde ich uns eine Erinnerung an Deinen Besuch hier machen. Ich … .“
„Au ja, kannst mir etwas vom Kucherl mitgem? Und für Franz und Nannerl auch was!“, platzte der Junge in meine Überlegungen rein.
„Wenn etwas übrig bleibt, gerne. Nur, heute Nachmittag kommen noch zwei Freunde, falls es Dich nicht stört. Wir legen noch ein paar Plätzchen auf den Tisch, dann bleibt sicher etwas vom Marmorkuchen für Euch übrig. Was ich aber sagen wollte: Ich habe noch einen angefangenen Film in der Kamera. Warte, ich hol´ sie mal.“
Während mein Gast Volkslieder harmonisch hinreißend unterlegte, stieß ich im hintersten Winkel einer Schublade auf meinen Fotoapparat. Die Anzeige sagte mir, dass noch ca. zehn Bilder gemacht werden konnten. Ich zeigte ihn Mozart und dazu einige Fotos, die mit dieser Kamera entstanden waren. Wieder staunte er, und seine Augen wurden groß.
„Oh ja, mach!“, forderte er mich heraus.
Wolfgang Amadeus Mozart in Jeans und Pullover am Klavier. Mit dunkelbraunen, kurzen Haaren … surreal, grotesk … ich suchte nach dem passenden Wort.
„Und jetzt Du – ind Küchen!“
„Warum gerade dort, Amadeus?“
„Weil…“, er überlegte, „weil i Dich da heut Morgen mit die Händ im Mehl gfunden hob.“
„Und das hat Dir gefallen?“
„Jaaa!“ Mozart strahlte übers ganze Gesicht.
Wir stellten die Szene in etwa nach, dann lichtete er mich an der Spüle und beim Lesen auf der Eckbank ab.
„Sollen wir eins mit Deiner richtigen Kleidung machen, in der Du gestern gekommen bist?“
Die Stücke hingen immer noch im Bad, waren jedoch inzwischen getrocknet. So entstanden die letzten Fotos von Wolfgang in der Aufmachung von etwa 1768. Er war begeistert und wollte sofort die Ergebnisse sehen.
„Komm her“, sagte ich, „ich zeige Dir, wie Du den Film in seine Spule zurückdrehst, und dann bringen wir ihn zur Schnellentwicklung.“
Gesagt, getan. Zwei Stunden später, nachdem wir einen herrlich duftenden Kuchen in Gugelhupfform in der Backofentür begrüßt hatten, waren wir im Besitz von 37 Papierbildern in Farbe, von denen elf Mozart und mich zeigten und die restlichen von meinem letzten Wanderurlaub in Schottland stammten.
„Was möchtest Du denn für Deine Eltern und Nannerl mitnehmen?“
Wir hatten vereinbart, dass wir die Wartezeit noch ein bisschen zum Bummeln in den Geschäften nutzten. Zunächst fiel Mozarts Augenmerk auf eine Dynamo betriebene Taschenlampe.
„Wann I beid Nocht nach Haus kim, kon i des guat braucha!“
„So“, fragte ich, „warum bist Du denn im Dunkeln allein in der Stadt unterwegs?“
„Nannerl kann doch nicht immer bei mir sein; auch der Herr Papa und die Frau Mama hom vui z´tun. Und dann muss i allein vom Orgelunterricht zruck kima.“
Wir nahmen gleich noch zwei Ersatzbirnchen mit dazu und schauten uns dann bei den wie Eckspanner gearbeiteten Notizbüchern um.
„So was mog mei Schwester!“, rief er begeistert aus und wählte schließlich ein kleines mit Cashmere-Muster.
„Und für Deine Mama?“, forschte ich.
„Irgendwas mit Lavendel …“, überlegte das Geburtstagskind.
„Finden mir vielleicht wos fürd Knie vom Herrn Papa? Jetzt im Winter ist´s ihm besonders arg.“
„Das ist aber schwierig“, gab ich zu bedenken. Es kann eine Krankheit sein, die man mit Wärme oder mit Kälte behandeln muss. Weißt Du…?“
„Wärme braucht´s da! Hot sei Leibarzt g´sogt!“
Also besorgten wir eine leicht kortisonhaltige Salbe zur Verbesserung der Durchblutung in den Gelenken.
Zuhause mit Fotos und Geschenken angekommen, deckten wir den Tisch ein für Kaffee und Kuchen. Während Amadeus noch ein wenig musizierte, kamen auch schon die beiden Freunde.
„Ach, das Stück höre ich gern! Von Mozart, oder?“, meinte gleich einer beim Eintreten.
Wenn der wüsste!, dachte ich.
Wie abgemacht, stellte ich den Jungen als Wolfgang, wie auch schon Frau Schedler und Paul gegenüber, vor und konfrontierte den anderen Freund mit der rhetorischen Frage, ob die Musik störe.
„Aber nein“, meinte dieser, „der Junge muss ja nicht unbedingt bei uns sitzen. Wäre vermutlich langweilig für ihn.“
Nach einiger Zeit war Mozart dann aber doch anders als nur musikalisch zu vernehmen.
„I hob an Hunga!”, meldete er sich vom Klavier her. „I mog a Milli!”
„Ich wusste gar nicht, dass Deine Cousine in Österreich lebt”, bemerkte einer meiner Gäste.
Für mich wirkte es so, als ob sie bereits ‚Verdacht‘ schöpften. Aber wer sollte schon auf die verrückte Idee kommen, dass dieser begabte Musiker dort eigentlich in einer ganz anderen Epoche lebte?
Ein Besucher fragte: „Wann hast Du denn mit dem Spielen angefangen?“
Mozart überlegte kurz: „Oh, i spui scho long – mei Schwester a. Mir spuin oft zamma.“
Raffiniert, die Frage nicht ganz passend zu beantworten und dann in eine andere Richtung zu wechseln!
Aufgrund des bewölkten Himmels hatten wir ohnehin die gesamte Zeit über bei Licht gesessen. Nun war es bereits dunkel, und wie ich im Schein der Straßenlaternen erkennen konnte, hatte es wieder zu schneien begonnen.
„Ob Salzburg auch weiß ist?“, überlegte ich laut. „Was zieht Ihr eigentlich an, wenn es richtig kalt ist? Dann geht Ihr bestimmt nur so lange wie eben nötig nach draußen, oder?“
Einer meiner Freunde nahm meinen Gedanken auf und meinte, es gebe wohl auch in Österreich Thermojacken und Moonboots.
„Aber doch noch nicht zu Mozarts Zeiten, im 18. Jahrhundert!“, platzte es vorwurfsvoll aus mir heraus.
Augenblicklich bedauerte ich das Gesagte, aber es war zu spät. Die Freunde guckten sich gegenseitig verdattert an. In diesem Moment hörten Wolfgang und ich ganz leise, gedämpft durch den Schnee, Hufgetrappel.
Amadeus stürzte ans Fenster und rief voller Entzückung: „Franz kimt! I sog ihm, dass i mi schnell umzia!“
Der Knabe rannte hinaus, sprach mit dem Kutscher und verschwand dann im Schlafzimmer, wo wir all seine Sachen deponiert hatten. Auf dem Weg dorthin verabschiedete er sich von unseren Gästen, um sich ein letztes Mal in Jeans und Pullover vor ihnen zu zeigen.
Sage ich unsere Gäste? So weit war es also schon gekommen!
„Danke für Euren Besuch. I muss jetz hoam!“
Sie wünschten gute Reise, nichtsahnend, dass sich diese in einer Kutsche vollziehen würde und versprachen am Fenster zu winken. Während Mozart sich wieder in das zwölfjährige Salzburger Wunderkind des Rokoko-Zeitalters verwandelte, packte ich Proviantpäckchen für ihn und Franz mit Getränken, Butterbroten, Äpfeln und Kuchen.
„Guten Abend, Franz“, begrüßte ich den Kutscher. „Haben Sie gut hierher gefunden?“
„Wissen´s, gnä Frau, dass i mi amol verfahren würd, hob i scho einkalkuliert. Is scho gut!“
Und zu Mozart gewandt: „So, Geburtstagskind, dann kommen´s. Des Fräulein Nannerl wort scho ganz ungeduldig auf Ihre Rückkehr.“
„Möchten Sie sich noch ein wenig im Haus aufwärmen, etwas essen? Natürlich dürfen Sie auch gerne hier übernachten!“, bot ich an in der Hoffnung, den Moment der Trennung noch hinauszögern zu können.
„Dank´ schön, des is sehr liab, oba mir mögend doch lieber aufbrechen jetzt.“
So beugte ich mich also dem Unausweichlichen. Das meiste verstauten wir im Gepäckkasten, der sich außen am Heck der Kutsche befand; einen Teil des Proviants legten wir auf die Rückbank.
„Wos hand des für Kasteln?“, wollte der Junge wissen und zeigte auf die Brotdosen.
„Ich habe so viele von denen – außerdem bleiben die Lebensmittel darin länger frisch“, erklärte ich.
Bestimmt hatte doch die Haushälterin dafür Verwendung.
„Herr Amadeus“, mahnte Franz, „beeilen´s sich a bisserl!“
„Danke, dass Du mein Gast warst, Amadeus!“, brachte ich mit einem Kloß im Hals hervor. „Für mich war es eine wunderschöne Zeit mit Dir!“
Ich umarmte ihn herzlich und blieb mit einem Ring im Perückenzopf hängen. Nun saß sie ein bisschen schief und ließ die dunklen kurzen Haare noch einmal erkennen.
„Des grüne Hemterl hat mir so narrisch g´foin, des hob i noch o. Ist des schlimm?“, fragte er geniert.
„Aber nein, nimm es mit – ich werde Paul ein neues kaufen. … So, jetzt aber – hinauf mit Dir, lass Franz nicht noch länger warten!“, frozzelte ich.
Mozart kletterte die zwei Trittstufen empor und hätte sich fast auf den Kuchen gesetzt, was diesen schwer beschädigt hätte, denn eine feste Verpackung dieser Größe besaß ich nicht. Er schob noch seinen Arm aus der Tür heraus, als sich die Kutsche bereits in Bewegung setzte, dann winkte er lange zum Fenster heraus, bis ich von ihm, Franz, dem Pferd und dessen vierrädriger Last fast nichts mehr erkennen konnte.
Ich seufzte dieser Trennung hinterher und wischte mir einige Tränen aus den Augen. Erst jetzt wurde ich mir der Zuschauer an den Fenstern ringsum bewusst, auch meiner beiden Freunde, die sich mit imaginären, auf ihren Gesichtern erscheinenden Fragezeichen ansahen. Es war gewiss ein Schauspiel gewesen, wie eine Kutsche aus einer weit zurück liegenden Zeit bei uns, noch dazu mitten im Winter, vorfuhr und Menschen zu beobachten waren, die – zumindest äußerlich – genauso wenig in unsere Zeit passen wollten.
Versonnen kehrte ich ins Haus zurück und versuchte mir den Aufdruck auf Pauls – und jetzt Wolfgangs T-Shirt in Erinnerung zu rufen: eine skizzierte Spirale, die nach außen hin mit einem schräg nach oben gerichteten Pfeil auslief. Dazu die Worte Ich bin die Nr. 1! Hat er mit zwölf Jahren seinen späteren Erfolg schon geahnt?
Wegen der nachmittäglichen Ereignisse war ich meinen Freunden wohl eine Erklärung schuldig …
P.S.: Übrigens hatte mir Mozart zwei kleine Kompositionen hinterlassen. Eine spätere Prüfung durch Sachverständige des Mozarteum in Salzburg ergab, dass jegliche Zweifel an der Echtheit ausgeschlossen werden könnten. Es handelte sich um die Handschrift des jungen Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart.
Eine Kurzgeschichte von Stefanie Glave, Wuppertal am 31.08.2017.
Stefan Starnberger
So schöne Geschichten hat Stefanie Glave verfasst. Leider hat sie uns am Dienstag, 26.3.24 verlassen. Wir sind alle sehr traurig. Stefan Starnberger