Schloss Einstein lag im tiefen Dunkel einer mondlosen Nacht, als die drei zwielichtigen Gestalten ihren Weg durch das verschneite Unterholz suchten. Es herrschte bei eisigen Temperaturen weit unter null Grad Windstille und eine schaurige Ruhe.
„Wo willst du hin, hier is nix“, meckerte Paul und hielt Silvio von hinten an der Schulter fest, um ihn zu sich zu drehen.
„Doch da ist was“, zischte Silvio, die Lautstärke nur schwer unterdrückend, scharf zurück.
„Seid doch noch lauter“, flüsterte Ibrahim, „Wenn hier was is, dann sind die jetzt aufmerksam geworden!“
Sie nannten sich die PIS-Gang und waren auf Einbrüche spezialisiert. Die Aufgaben waren zwischen den drei Gaunern klar verteilt: Silvio war der Kopf und Kundschafter der Bande, Ibrahim klein und zierlich wie er war, eher der Feinmechaniker und Paul als gestählter Bodybuilder nur für das Grobe zuständig.
Silvio hatte einmal im Streit Paul derart mit der Bemerkung beleidigt ‚Er wäre ein typischer Schleusenschwimmer und hätte nur Hackfleisch im Kopf‘, dass Paul ohne verbal zu werden mit einem Linksausleger reagierte. Nur durch das beherzte Eingreifen Ibrahims konnte Schlimmeres verhindert werden. Noch lange nach dem Streit, fiel es Silvio schwer, sich die Nase zu putzen.
Trotz ihrer regelmäßigen Reiberein hielten sie zusammen, heckten schon viele Einbrüche aus und führten sie mit bescheidenem Erfolg durch. Heute waren sie wieder zu einem Bruch unterwegs.
„Sei ehrlich, Silvio“, flüsterte Ibrahim weiter, „du hast dich verlaufen. Hier is nix zu sehen. Wir laufen jetzt schon stundenlang im dichten Wald herum. Mir ist saukalt und ich habe nasse Schuhe. Sag noch mal, nach was wir suchen!“
„Letzte Woche bin ich mit unserem Ultraleichtflugzeug hier rüber geflogen und habe ein Schloss gesehen. Sonst nichts weiter, keine anderen Häuser. Einsam und verlassen lag es zwischen den Bäumen auf einer leichten Anhöhe.“ Bei den letzten Worten hob Silvio die Mütze an und kratzte sich nachdenklich am Kopf.
„Da ham wir‘s“, dröhnte Paul, „ich hab nie geglaubt, dass du hier ein Schloss gesehen hast. So nen Quatsch. Jetzt stehen wir hier im arschkalten Wald und finden womöglich nicht mehr raus. Boah, habe ich die Faxen dicke mit deinen Plänen.“
Scheinbar hatte er sich doch in dem Gebiet vertan, dass dämmerte Silvio jetzt und er gestand ein, dass er den Plan noch einmal überprüfen müsse. Die Drei traten den Rückmarsch an.
Das Gelände wurde hügeliger und sie kämpften sich durch Schnee und umgestürzte Bäume aufwärts bis zu einer offenen Stelle.
„Da ist es!“, drang es freudig mit einem Japser aus Silvio, „Da ist es! Ich habe es gewusst!“
„Das war aber eben noch nicht da“, bemerkte Ibrahim, „hier sind wir eben schon einmal hergelaufen. Seht unsere Fußspuren hier rechts.“
„Egal. Ans Werk! Ich will nach Hause!“, befahl Paul und stapfte mit dem Bolzenschneider zum Eisentor.
„Moment!“, stoppte Silvio Paul, bevor dieser die glänzende Eisenkette neben dem Bügelschloss durchtrennen konnte. „Hier steht ‚Schloss Einstein‘. Das habe ich noch nie gehört. Ist das neu?“, flüsterte Silvio fragend weiter.
„Nö. Die Mauern sind alt, nur die Kette is neu!“, bemerkte Paul und Ibrahim bestätigte diese Feststellung.
„Is kein Licht zu sehen. Is komplett dunkel. Is bestimmt keiner da.“ Pauls Stakkato klang wie ein Maschinengewehr mit Schalldämpfer und war entwaffnend. „Und wenn doch, dann …“, er unterbrach den Satz und fuchtelte mit dem Bolzenschneider über den Köpfen der anderen beiden Gauner herum.
„Na gut. Also los!“, bei diesen Worten trat Silvio einen Schritt zurück neben Ibrahim.
Laut peitschte die Eisenkette aus den Eisenstäben und fiel klirrend auf die eisigen Stufen. Einen kurzen Moment wartete die Bande noch lauschend und schlich dann zum Eingangsportal des Schlosses. Die schwere Holztür war unverschlossen. Knarzend schwang die Tür langsam auf, nachdem Ibrahim das Türschloss mit der Klinke entriegelt hatte. Die Drei blickten in einen finsteren, langen Gang und das Echo der knarzenden Tür hallte aus fernen Räumen zu den Männern zurück. Sie standen in dem Bogen der geöffneten Tür und blickten in das Dunkel. Das Echo verstummte. Totenstille.
„Is leer hier“, fand Paul die ersten Worte.
„Habt ihr eure Lampen?“, fragte Silvio und schaltete seine Taschenlampe an. Die beide anderen kramten ebenfalls ihre Lampen hervor und leuchteten in den leeren Gang. Keine Möbel, keine Teppiche, keine Bilder. Das Schloss, so schien es, war komplett leer.
„Da hinten geht es zu ein paar Zimmern“, bemerkte Ibrahim, „ und seht dahinten, die Treppe in die oberen Stockwerke ist eingestürzt.“
„Sieht nich gut aus. Hier is bestimmt nix“, moserte Paul und fluchte innerlich – genauso wie Ibrahim – über seine kalten nassen Füße.
Silvio blickte verärgert in den leeren Gang und entgegnet beschwichtigend: „Lasst uns wenigstens die Zimmer durchsehen. Wenn hier nichts ist, dann hauen wir ab!“
Die Lichtkegel bildeten in den leeren Zimmern huschende Kreise auf Boden, Decke und Wände. Es war tatsächlich leer, das ganze Schloss Einstein war tatsächlich leer, so hämmerte es in Silvios Kopf. Er verfluchte sich gerade noch, als Reaktion auf diese Feststellung, bevor der Schein seiner Lampe einen alten Sekretär traf.
„Na super! Eine Holzkommode haben wir gefunden! Ne olle Holzkommode“, bellte Paul los.
„Ein einziger Schreibtisch im ganzen Schloss“, jammerte Ibrahim enttäuscht, „und dafür der ganze Aufwand. Mann-o-Mann.“
Die Beiden blickten enttäuscht und einen Schuldigen suchend Silvio an. Wie eine Marionette zuckte der im Lichtschein die Schultern.
„Öffnen und ab hier! Mir wird’s jetzt zu bunt. Ich hab keine Lust mehr“, stieß Paul hervor und gleichzeitig mit dem Bolzenscheider in die Holztür des Sekretärs.
Die rohe Gewalt ließ die Fronttüren splittern und der Sekretär kippte nach hinten. Der Aufschlag auf dem Boden zerlegte den restlichen Sekretär in seine Einzelteile. In dem Berg aus Holz fand sich einzig ein altes, dickes, braunes Kuvert.
Die blasse Aufschrift ließ sich schwer entziffern und Silvio reimte sich durch die Zeilen: „Dem edlen Finder zum Wohlgefallen und zur weiteren Verantwortung in gute Hände.“
„Was’n das für’n Quatsch?“, Paul wurde ungehalten. „Los mach auf! Vielleicht is Geld drin.“
Silvio öffnete das Kuvert und zum Vorschein kamen Papiere. Eine Art Briefe oder Kommentare, so glaubte Ibrahim. Alle trugen irgendein Datum aus den Jahren 1915 bis 1923.
Paul wippte mit den Füßen und schwang lustlos seinen Bolzenschneider im Kreis. Ibrahim leuchtete auf die Papiere. Er entzifferte Erklärungen, einzelne Worte und Überschriften, neben den ganzen für ihn unverständlichen Zahlen und Formeln.
Silvio nahm ein Papier nach dem anderen aus dem Kuvert und reichte es an Ibrahim weiter.
Ibrahim las Bruchstücke vor: „Zeitschleife – gebogener Raum – Zeit geht rückwärts – unendlich ist der Kreislauf – gefangen bin ich.“
Silvio ergänzte: „Zeitreisen sind möglich – wichtig ist Kälte und Dunkelheit – wenig materielle Dinge nur Stein und Eisen.“
„Bla-bla-bla. Alles nur bla-bla-bla. Nix, was wir zu Geld machen können.“ Pauls Ungeduld war deutlich in seinem aggressiven Unterton zu spüren und er bollerte weiter: „Das war ja wohl nix du Hohlkopf. Silvio der große Planer. Pah! Hier is nix Weltbewegendes nur leere Zimmer und Geschwafel. Ich will wech hier!“
Ibrahim bewunderte die Formeln, die wie eine Art Kunstwerk aussahen. Ein Blatt hatte es ihm besonders angetan. Es zeigte Handzeichnungen und Bilder. Zahlen und Symbole standen über und unter einem Strich und daneben erkannte er ein Gleichheitszeichen auf dessen anderer Seite offensichtlich die Lösung eines Problems stand. Als Kommentar stand darunter ‚Einstein Bruch‘, mehr nicht. Dieses Dokument gefiel ihm so sehr, dass er es in die Innentasche seiner Jacke steckte.
Silvio schmiss enttäuscht den Rest der Papiere und das Kuvert auf den Holzhaufen. Paul schob mit seinen Füßen das Holz zusammen und zündete es an. Der Scheiterhaufen spendete keinen Trost und keine Wärme, außer etwas Licht für wenige Minuten, bis der Verbrennungsakt vorbei war.
„Los raus hier! Ich will nach Hause!“ Mit diesen Worten stapfte Paul voran zur Eingangspforte und die beiden anderen trotteten hinter ihm her.
„Nanu, die Tür ist ja zu“, bemerkte Silvio und Ibrahim ergänzte: „Muss wohl der Wind gewesen sein.“
„Weg da, das mach ich!“, drängte sich Paul nach vorn und hebelte mit dem Bolzenschneider an dem eichenen Türblatt herum.
Krachend sprang die Eingangstür auf.
Helles Licht sahen sie und das Gezwitscher der Vögel drang an ihre Ohren. Eine sanfte Brise wehte durch ihr Haar und die duftenden Vorboten des Frühlings lagen in der Luft. Eine grüne Wiese vor rauschenden Laubbäumen lag vor ihnen. Die Stahlkette am Eisentor war neu, dicker als vorher und fest verschlossen.
Eine Kurzgeschichte von Dr. Ingo Hoffmann, Wuppertal im März 2015.