Die Sonne schien durch die sauberen Fenster und erhellte das lärmende Innere des Kaffeehauses im Wiener Gemeindebezirk Mariahilf. An einem der vorderen Tische saßen drei deutsche junge Herren vor ihren leeren Tassen und philosophierten in der Art weiter, wie sie es zuvor an ihrem Institut für Philosophie gelernt hatten.
„Wir sind jetzt seit einem Jahr hier in Wien und sind immer noch auf der Suche nach Substantiellem“, bemerkte Martin nach einer längeren Gesprächspause. Es war der Unterton, der Max und Jürgen frisch werden ließ. Leichte Kritik schwang in ihm mit. Für Außenstehende unmerklich ging ein Ruck durch die kleine Gesellschaft am spärlich gedeckten Kaffeetisch.
„Traust du unserem kleinen Philosophenkreis nicht zu, etwas Bedeutendes, etwas wirklich Bedeutendes hervorzubringen?“, fragte Max und beugte seinen Oberkörper vor, während er seine Tasse in Richtung Tischmitte schob.
Jürgen stützte ebenfalls seine Ellenbogen auf der Tischplatte auf, faltete die Hände und legte sein Kinn auf die abgespreizten Daumen, den Mund verbergend. Die Frage schwang über dem Tisch. Fragender, Gefragter und Zuhörer dachten nach.
„Die Frage“, zelebrierte Jürgen und sein erhobener Zeigefinger pendelte vor seiner Nasenspitze, „die Frage ist, was heißt Substantielles und was heißt Bedeutsames? Wir müssen hier genauer sein und dies definieren!“
„Meinst du auf einer Metaebene? Auf der übersprachlichen Ebene im Sinne unseres Professors am Institut?“, versuchte Martin zu konkretisieren und machte mit der linken Hand greifende Bewegungen in Brusthöhe.
Der Ober trug eine Karlsbader-Kanne zum Nachbartisch und servierte der Dame hinter Max einen kleinen Braunen auf dem Serviertablett, bevor er zum wiederholten Mal die drei Deutschen fragte, ob sie noch etwas wünschten. Alle Drei verneinten.
„Wo waren wir stehen geblieben?“, sinnierte Max, blickte auf den Tisch und kratzte mit dem rechten Zeigefinger an einem imaginären Fleck auf der Tischdecke herum, „ah-ja, bei unserem alten, zerstreuten Professor!“
„Nicht ganz, Max. Wir sprachen über Definitionen“, ergänzte Jürgen und fuchtelte erneut mit dem erhobenen Zeigefinger vor seinem Mund herum.
„Ich dachte gerade über das Wesen der höheren Frage nach“, insistierte Martin, „ich hatte unser Problem hier vermutet.“
„Wo?“, fragten Jürgen und Max unisono.
Eine korpulente Dame zwängte sich an den Stühlen vorbei durch die Tischreihen und gesellte sich zu der Dame hinter Max an den Tisch. Die Gespräche der Damen kreisten um Torten, Schlagobers und hochprozentige Spirituosen. Männer waren Nebensache. Zwischenzeitlich war auch die Karlsberger-Kanne am anderen Nachbartisch alle, die Gäste baten den Ober um die Rechnung.
„Ich will noch einmal zusammenfassen wo wir jetzt stehen: Martin kritisiert unseren Philosophenkreis und du, Max, bist der Meinung, dass wir mehr auf unseren Professor hören sollten. Ich finde dagegen, dass die zwei Dinge nicht notwendig auseinanderklaffen. Ist hier meine Wahrnehmung richtig?“
Der Ober berechnete am Nachbartisch die Karlsberger-Kanne und fragte die korpulente Dame hinter Max nach ihren Wünschen. Diesmal ignorierte er die drei Philosophen – absichtlich. Seit einer Stunde sitzen sie schon da vor ihren leeren Tassen und reden, dachte er und ärgerte sich.
„Die Wahrnehmung, folgt den Sinnen. Sind diese offen für Neues, so glänzt die Wahrnehmung und bringt Verborgenes zum Vorschein“, rezitierte Max aus seinem Vorrat an philosophischen Lehrsätzen.
„Hierin liegt die Wichtigkeit der Präsenzindikatoren zur Messung der Gegenwartspräferenz“, schwadronierte Jürgen und fuchtelte mit dem erhobenen Zeigefinger in der Luft herum.
Der Ober deutete das Zeichen und kam mit der Rechnung. Diese verdeutlichte seine Gegenwartspräferenz. Er hatte nämlich gleich Feierabend und wollte vor der Übergabe an seinen Kollegen gerne noch alle verbliebenen Tische – nach seinen Worten: Restanten – abkassieren.
„Nein, nein“, erläutert Max, „wir wollten nichts bestellen.“
„Ich dachte, sie hätten nach der Rechnung gefragt“, erklärte der Ober in verständlichem Deutsch.
„Wissen Sie, Herr, Herr …, wie war doch gleich Ihr Name?“, wandte Jürgen sich an den Ober.
„Ober!“
„Ober?“, staunte Martin.
„Wissen Sie, Herr Ober, wir arbeiten hier an einem neuen Realitätsverständnis und bleiben noch etwas sitzen“, nahm Jürgen seinen verlorenen Gesprächsfaden wieder auf und Max ergänzte: „Die Realität gibt dem Wesen sein Seinsgefühl. Es bettet ihn in Neues und Altes zugleich, aus dem der Schwung zur Tat sich speist. Ohne Elan gibt es keine Aufbruchstimmung.“
Der leidgeprüfte Ober hatte schon viel in seinem Berufsleben erlebt und heute bereits viel von den drei jungen Herren im Philosophenkreis vernommen. Er war mitunter sehr schlagfertig, doch jetzt blieb er mit offenem Mund stehen und staunte. Das Gesagte waberte zwischen seinen Ohren durchs Gehirn und ergab für ihn keinen Sinn. Die folgende Fortsetzung von Martin machte es nicht deutlicher.
„Das Realitätsverständnis ist im Beispiel eine Konformität der Ideen mit dem Handeln, als ein Ausdruck der Suche nach der nicht geschönten Wahrheit. “
Die korpulente Dame wollte bezahlen – der Ober beachtet sie nicht. Er stand am Tisch der Philosophen und suchte nach Worten.
„Die Realität folgt oft dem Handeln. Unserem Handeln voraus geht die Frage: Was sollen wir wollen?“, diese beiden Lehrsätze hatte Max emotionsgeladen vorgetragen.
Der Ober hatte einige Schlagwörter aufgeschnappt und fand, es sei an der Zeit zu antworten.
„Ich kann Ihnen sagen was Sie wollen sollen. Sie sollen der Realität ins Auge schauen und erkennen, dass Ihr Gespräch zu nichts führte. Sie können sich nun der Erkenntnis glücklich schätzen jetzt zahlen zu dürfen, verbunden mit der einmaligen Chance nach Ihrem Aufbruch vielleicht noch etwas Handfestes arbeiten zu können. So schaffen Sie etwas Bedeutsames in der Realität und können der Gesellschaft einen substantiellen Wert zurückgeben.“
Eine Kurzgeschichte von Dr. Ingo Hoffmann, Wuppertal im März 2015.