Äsop und die Fabel der Wildkatze
Es begab sich, dass Äsop zum Schreiben in die Welt der Tiere ging.
Bergan im dichten Wald nahe der Baumgrenze setzte Äsop sich in der untergehenden Sonne auf einen Stein, blickte durch die Wipfel über die hügelige Landschaft und sann wie jedes Mal nach Eingebung.
„Du bist Äsop, der Schreiber aus dem Dorf“, erhob sich sanft die Stimme der Wildkatze.
Äsop blickte sich um und erkannte die Wildkatze nahe der alten Eiche an ihrem kurzen und dicken Schwanz mit der typischen Dreier-Ringelung.
„Ja. Ich schreibe Geschichten für die einfachen Menschen, die unter der Macht der Fürsten leiden. Das ist nicht einfach, denn ich will nicht den Unmut der Herrschenden auf mich ziehen.“
„Ich will Dir helfen“, sprach die Wildkatze. „Ich will Dir helfen lehrreiche Geschichten zu schreiben, die Du gefahrlos kundtun kannst.“
Äsop schaute sie erstaunt an und die Wildkatze ergänzte: „Es sind Geschichten von uns Tieren. Ich werde Dir die Fabeln von den zehn Todsünden der Tiere erzählen und Du schreibst sie nieder.“
Äsops Interesse war geweckt. Er nickte der Wildkatze zustimmend zu und benetzte seine Malerfeder mit Tinte.
Daraufhin begann die Wildkatze zu erzählen.
I. Die Fabel der Wildkatze vom Hochmut
„Ich kann das“, sprach der junge Rammler zu seiner Häsin und begann umgehend mit dem Graben der Hauptröhre für ihren neuen Bau.
Zwei Körperlängen tief buddelte er fleißig weiter, als hinter ihm der lose Sand des frisch aufgeschütteten Haufens in der untergehenden Abendsonne ins Rutschen geriet und ihn vollständig in der Röhre begrub.
Mühsam befreite er sich mit letzter Kraft ins helle Mondlicht und blickte erschöpft in die angstvollen Augen seiner Häsin.
„Glaubst Du unerfahrener Tor Dein Werk kann so gelingen?“, fragte der Waldkauz aus dem dichten Geäst der alten Buche.
„Erst besinne, dann beginne!“,
sprach der wendige Flieger und stieß herab, um die leichte Beute zu fangen.
„Bist Du mit dem Schreiben fertig?“, wurde Äsop gefragt.
Weil er nicht zu sprechen wagte, bedeutete er ihr mit einer knappen Geste die Erzählung fortzusetzen.
Die Wildkatze fabulierte weiter.
II. Die Fabel der Wildkatze vom Geiz
Der junge Iltis legte reichliche Vorräte in seiner Höhle an. Allerlei gelähmte Frösche stapelten sich im Überfluss in seinen Erdgängen.
Eines Tages kam zu ihm der verletzte, alte Iltis und bat: „Höre lieber Freund, ich bin der Jagd im Moment nicht mehr so mächtig und bitte um einen Bissen aus Deinem Krötendepot. Ich will ihn Dir zurückgeben, sobald ich wieder gesund bin.“
„Ich kann dir nichts von meinem Vorrat geben, sonst habe ich zu wenig. Das musst du verstehen. So ist eben der Weltenlauf, die Schwachen werden verschwinden.“
Der verletzte Iltis zog sich in seine Erdröhre zurück und trotz des Darbens genas er. Erstarkt trat er eines sonnigen Tages ans Licht und traf den jungen Iltis, der sich schuldig und unwohl fühlte.
„Kannst du mir verzeihen, dass ich so hart und geizig zu dir war?“, sprach der junge Iltis.
„Ich werde dir nicht verzeihen“, begann der alte Iltis und fuhr fort: „Du hast mir in der Not die Nahrung versagt, nun bin ich zu geizig um dir die Schuld zu nehmen. So ist eben der Weltenlauf, die Schuldigen werden ewig büßen.“
Der junge Iltis merkte es deutlich:
„Geiz hat viele Grade, Vergebung nicht zu geben ist wohl der strafenste.“
Die Wildkatze schaute zu Äsop, der die letzten Worte auf seine Papiere kritzelte und fuhr fort.
III. Die Fabel der Wildkatze von der Wollust
Hoch trug der alte Platzhirsch sein Haupt und beschlug unter klarem Himmel in den kalten Herbsttagen des Jahres ein Kahlwild nach dem anderen aus seinem Brunftrudel.
Ein kapitaler Hirsch im zehnten Kopf verfolgte das Treiben des Platzhirschs und machte ihm in heftigen Kämpfen den ersten Platz im Rudel streitig.
Mit großem Imponiergehabe und seinem mächtigen Geweih versuchte der Platzhirsch sein Territorium zu verteidigen und den Rivalen zu vertreiben.
Beide Kämpfer, gierig darauf Erster im Brunftrudel zu sein und mit dem Kahlwild die Nachkommen zu zeugen, verzerrten sich und waren vom übrigen Geschehen abgelenkt.
So konnte der Sperlingskauz beobachten wie der jüngere, geringere Hirsch die Gunst der Stunde nutzte und eine Hirschkuh nach der anderen für sich gewann.
Der Sperlingskauz lehrte daraufhin seine Nestlinge:
„In der Mäßigung liegt die Kraft, so dass der Geduldige Sieger wird.“
Äsop unterstrich sich den letzten Satz.
Die Wildkatze buckelte und reckte sich.
Der Mond prangte hoch über ihnen und der Schein der Kerze beleuchtete spärlich die Mitschrift des Äsop.
Die Wildkatze hockte sich erneut auf ihre Hinterläufe und berichtete weiter.
IV. Die Fabel der Wildkatze vom Zorn
Einst im Frühsommer kamen die Tiere des Waldes zu den Löwen und beschwerten sich über den Zustand des Waldes.
„Unsauber, dreckig und überall totes Holz am Boden“, stellten sie fest und forderten, dass der gesamte Wald gereinigt werden müsste.
Murren, Meckern, Scharren und Forderungen nach Rücktritt waren aus der Menge der Revolutionäre zu vernehmen.
Die Löwen erkannten ihre eigene Not in der sinkenden Zustimmung zu ihrer Führung und demonstrierten Kontrolle, Macht und Durchsetzungskraft mit den Worten: „Wir, die Herrscher des Waldes, befehlen dem Wind den Wald ordentlich zu reinigen!“
Der Wind wurde wütend und zornig über den Befehl, ihm hatte schließlich keiner etwas zu sagen.
Als Lektion blies er einem Herbststurm gleich so heftig durch den Wald, dass auch die Tanne ihr Kleid ablegte und zur kahlen Eiche sprach:
„Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da kann kein Baum die Blätter halten.“
Die Wildkatze blickte zu Äsop und vergewisserte sich, dass er alles niedergeschrieben hatte, bevor sie die nächste Geschichte diktierte.
V. Die Fabel der Wildkatze von der Völlerei
Die Ziege fraß vom frühen Morgen bis zum späten Abend ohne Unterlass. Ihr Bauch schwoll und ihre Beine konnten kaum die Last noch tragen.
Geduldig beobachtete Isegrim die Völlerei der Ziege und setzte im Halbdunkeln zur Jagd an.
Mit größter Mühe erreichte die Ziege das rettende Gatter und blieb mit ihrem kugeligen Bauch im Eisen hängen.
„Du hättest nicht so viel fressen sollen“, sprach der Bock zur Ziege. Hilflos der Ohnmacht nahe wurde er Zeuge wie Isegrim von hinten sein im Gatter eingeklemmtes Weib fraß.
Schließlich sah er verbittert und traurig ein:
„Rat nach Tat, kommt zu spät.“
Ein zarter, kühler Wind umstrich den Stein auf dem Äsop im Schein seiner Kerze saß und schrieb.
Die Wildkatze wartete bis er aufblickte und begann die nächste Geschichte zu dichten.
VI. Die Fabel der Wildkatze vom Neid
Der Dachs erwachte aus seiner Winterruhe und reckte hungrig den wuchtigen Kopf aus der muffigen, kalten Erdhöhle.
Hoch oben in den Wipfeln der schon grünenden Eiche erblickte er im gleißenden Sonnenlicht den thronenden Habicht. Ermuntert durch reichlich Beute in der Luft und auf dem Boden setzte der Greifer vor seinen Augen zu einem wendigen, erfolgreichen Verfolgungsflug an.
„Ach wie sinnlos ist das Fliegen und Jagen am reich gedeckten Tisch“, bemerkte der hungrige Dachs zum Habicht und suchte im kalten Erdreich nach niederem Gewürm.
Der Habicht fühlte sich hofiert und zwar in der Art, wie schon die alte Weise lehrt:
„Nicht die Selbstliebe ist der größte aller Schmeichler, sondern im Neid findet sich die aufrichtigste Form der Anerkennung.“
Die Wildkatze wedelte ihren buschigen Schwanz und legte sich flach auf den Boden. Äsop blickte sie an und wartete.
Die Wildkatze erhob ihr Haupt und berichtete vom nächsten Ereignis.
VII. Die Fabel der Wildkatze von der Faulheit
Voll gefressen lagen die Löwen nichtsnutzig im Schatten einer stark verwitterten Felssäule und planten ihren Angriff auf die Tiger.
Schon lange lagen sie im erbitterten Streit um die letzten Nahrungsreserven mit den Tigern und nun sollte endlich ihre Vormachtstellung im Kampf besiegelt werden.
Aufgedunsene Bäuche, schlaffe Muskeln und faules Räkeln hinderte sie nicht daran mit markigen Worten den nahenden Krieg zu skizzieren.
Das lautstarke Debattieren über den Krieg gegen die Tiger hörte der intrigante Affe in seinem Versteck und denunzierte eilig die Löwen bei den Tigern.
Umgehend versammelten sich die Tiger heimlich hinter der lockeren Felssäule und rammten mit einem Mal den Felsen aus seiner Ruhe. Es war nur ein konzertierter Ruck und die polternden Steine erschlugen alle Löwen im Liegen.
Der Affe merkte sich die Weise fürs Leben:
„Siegen kommt nicht vom Liegen.“
Äsop erkannte die Parallelen zu seinem faulen Herrn und grinste in sich hinein. Die Weisheit der Wildkatze schätzte er hoch.
Die Wildkatze berichtete weiter aus der Welt der Tiere.
VIII. Die Fabel der Wildkatze von der Ruhmsucht
Der alte Leithammel und der Silbernacken der Löwen waren sich einig. Jedes ihrer Gebiete war zu klein, um die jeweilige Gefolgschaft zu nähren.
Der Silbernacken umwarb den alten Leithammel mit dem Versprechen auf Ruhm und Ehre für die beste aller Lösungen für dieses Problem: Die Zusammenführung ihrer angestammten Jagdgebiete.
Murren, Gemecker und Widerstand empfing den Leithammel daheim. Doch begünstigte er die starken jungen Böcke aus seiner Herde und versprach ihnen gleichen Ruhm und gleiche Ehre, auf dass sie ihn willig unterstützten.
Schnell war der Beschluss gefasst und zügig folgte der Zusammenschluss.
Allzu kurz nur sonnte sich die Führerschaft der Hammel im Glanz des Ruhmes, als dass sie es hätten genießen können.
Zu schnell überkam nach dem Fall der Gatter der Hunger die Löwenherde und sie riss ein Schaf nach dem anderen.
Den Hintern schon im Maul des Silbernackens, musste der Leithammel auf dem Schlachtfeld erkennen, wie sein Traum zerplatzte und Ruhm und Ehre mit den jungen Böcken in die Mägen glitten.
Das Letzte, was er noch vernahm, waren die Worte des Uhus:
„Alt werden heißt sehend werden. Das gilt nicht, wenn vom vermeintlichen Ruhm geblendet, der Geist zum Schutz sich umnachtet gibt. Lass Dich nicht blenden und verkaufe nicht Deiner treu um Dich zu höhen.“
Die Wildkatze sah mit einem fragenden Blick zu Äsop. „Hast du alles notiert, kann ich weiter dichten?“
Äsop nickte freudig und ermunterte die Wildkatze in ihrer Erzählung fortzufahren.
IX. Die Fabel der Wildkatze vom Trübsinn
Bislang war die Ameise eine fleißige und zuverlässige Arbeiterin, doch sie überkam der Trübsinn und sie besserte nur noch die Stollen im Bau aus, wenn sie unter Aufsicht und Anleitung stand.
Die Risse im Bau und die Schwächen im Gemäuer wurden in dem Maße mehr und deutlicher, wie ihre Trübseligkeit erstarkte.
Es kam wie es kommen musste, die Gänge in ihrem Abschnitt stürzten ein und begruben zahlreiche Artgenossen.
Im Trübsinn erschrak sie und erinnerte sich an den Leitgedanken ihrer verschütteten Ausbilderin:
„Tue deine Arbeit, deine Pflicht, ob Aufsicht oder nicht.“
Äsop war müde und gähnte.
„Sollen wir enden?“, fragte die Wildkatze.
„Nein, nein!“, bekräftigte Äsop. „Erzähle nur weiter. Erzähle mir auch noch von der zehnten Todsünde der Tiere.“
Die Wildkatze erhob ihre Stimme und formulierte die letzte Fabel.
X. Die Fabel der Wildkatze von der Menschlichkeit
Einmal gerieten die Rachendassel und die Hautdassel in einen großen Streit darüber, wer von ihnen beiden der Schädlichere sei.
„Ich fresse dem Reh den Schlund und schwäche es auf das Gewaltigste!“, erhob sich die Rachendassel.
„Das ist gar nichts“, empörte sich die Hautdassel, „ich krieche unter der Decke und fresse das Wildbret unter dem Fell. Bald schon kommt das Tier ab und verendet elendig.“
Weil sie nicht überein kamen, baten sie die Zecke zu werten und zu entscheiden.
„Ich werde nicht werten und nicht entscheiden, sondern klagen Eure Dummheit. Ihr seid viel zu menschlich. Ihr tötet was uns nährt.“
Die Zecke folgte damit ihrem Credo:
„Sei ein Denker und kein Richter.“
Äsop saß angelehnt an dem Stein und schlief. Im Morgengrauen rutschte er seitlich am Stein entlang und purzelte auf den Boden. Er war durcheinander und glaubte geträumt zu haben, doch die vollgeschriebenen Blätter zeugten anderes.
In der Kälte der Nacht steif geworden räkelte er sich erst auf dem feuchten Waldboden, bevor er aufstand und sich nach der Wildkatze umsah. Danken wollte er ihr, danken für die klugen Geschichten, die er gefahrlos den Menschen vorlesen konnte.
Da er sie nicht mehr sah, machte er sich auf den Weg bergab in sein Dorf.
Jenseits der dritten Baumreihe im Dickicht saß der heimliche Jäger und beobachtete den durchs Unterholz strauchelnden Äsop.
Die Wildkatze bemerkte für sich den Kern der Fabeln:
„Die eigene Zunge kann dich ins Unglück bringen. Darum Äsop merke: Lieber mit den Füßen gestrauchelt, als mit der Zunge.“
Eine Fabel von Dr. Ingo Hoffmann, Wuppertal im Dezember 2016.