Dies war sein Platz.
Hier am Kaiserplatz stand er jeden Tag und hoffte als Musiker auf die Milde der vorbeihastenden Menschen.
Stürmische Böen trieben die ersten Blätter über den Gehsteig, der Reif der Nacht glänzte und wirkte wie vereist, es war ein sehr kalter, klarer Herbstmorgen.
Er fror als er am Kaiserplatz in Vohwinkel an der alten, historisch anmutenden Laterne seinen Standplatz einnahm.
In der Hand hatte er einen mit Leder bezogenen Kasten für ein Altsaxophon. Macken und Schrammen brachen das Licht der sich im Kasten spiegelnden, aufgehenden Sonne.
Den alten Instrumentenkasten stellte er behutsam auf den Boden vor sich und öffnete zittrig die Verschlüsse.
Das Zittern kam nicht nur von der Kälte. Wie der Kasten, so war auch er alt geworden.
Ausgebreitet lag nun der Kasten dar. Sanft strich er den blauen Satin glatt und legte ein paar Münzen in den Deckel.
Ein vergilbter, knittriger Zettel klebte im Deckel. Die krakelig aufgetragenen handgeschriebenen Lettern informierten die interessierten Leser:
Musiker.
Kein Bier, keine Zigaretten, keine Drogen.
Nur Essen, Medikamente und Schlafen muss ich bezahlen.
Die Läden an der angrenzenden Kaiserstraße waren noch geschlossen und somit liefen nur wenige Menschen auf dem Gehweg hin und her.
Dick in einen Schal eingepackt hasteten sie an ihm vorbei in Richtung Schwebebahnhaltestelle und waren nicht an seinen Worten interessiert.
Es war so, als ob der Musiker für sie nicht existierte.
Für viele der an ihm Vorbeieilenden galt das unausgesprochene Dogma:
Schwachleister können wir uns in dieser Leistungsgesellschaft nicht mehr leisten.
Dieses Prinzip kannte er nicht, spürte es aber an jedem einzelnen Tag an dem er hier stand.
Ruhig lehnte er sich an der Laterne an, die Straße mit dem aufkommenden Berufsverkehr im Rücken, und blickte in das Schaufenster vor ihm.
Der Laden stand schon lange leer. Die verschmutzte und teilweise mit Plakaten verklebte Scheibe, war ein direktes Zeichen langen Leerstands und ein indirektes Zeichen für die schleichend fortschreitende, gesamthafte Entseelung des Stadtteils.
Erst jetzt entdeckte der alte Mann den jungen Mann zwischen den aufgeklebten Plakaten. Schemenhaft nahm er die zur Begrüßung winkende Hand war und winkte.
Dumpf hörte er die Stimme:
„Spiel doch. Spiele mir etwas vor. Ich höre dir gerne zu.“
Der alte Mann nickte, rückte seine Brille zurecht, schwang den grauen Wollschal über die linke Schulter und schob seine Schirmmütze etwas nach hinten.
Erst schemenhaft, dann deutlicher breiteten sich die Klänge aus. Eher für ein lauschiges Restaurant am Abend passender, schwangen die Töne außerhalb der Zeit im Raum zwischen Laterne und Schaufenster.
Vereinzelt öffneten nun die Läden, der Gehweg füllte sich und ein paar zusätzliche braune Cent-Münzen zierten schon den Deckel.
„Lächle“, sagte der junge Mann mit sanfter Stimme.
„Lächle, das ist das Zweitbeste was du mit deinen Lippen tun kannst.“
„Ja“, bestätigte der alte Mann und nickte abermals.
Die vollen, jungen Töne eines alten Altsaxophons erfüllten den Raum und die Zeit. Das Lächeln war an den Falten seitlich der Augen deutlich zu erkennen.
Nicht von der Anstrengung, sondern von dem aufkeimenden Glücksgefühl getrieben, leuchteten die aufgeblasen wirkenden roten Wangen gegen die höherstehende Sonne an.
Zu den braunen hatten sich in den vergangenen Stunden nun auch Cent-Münzen in glänzendem Messing gesellt.
Vage hörte der alte Mann die Stimme des jungen Mannes:
„Lache“, echote die Stimme im Kopf des alten Mannes.
„Lache! Tränen, die du gelacht hast, musst du nicht mehr weinen.“
Nun übernahmen heitere, junge Töne die Vorherrschaft.
Von der Nachmittagssonne gewärmt leuchteten die dicken Wangen nun noch stärker im tiefen Rot und die Tränen der Freude kullerten in breiten Bächen die adrigen Wangen herunter.
Der alte Mann war glücklich. Er besaß nicht viel, aber Freude und Glück beseelten ihn. Und das war weit mehr, als viele der an ihm Vorbeiziehenden ihr eigen nennen konnten.
Am späten Nachmittag blickte er erschöpft in den Deckel des alten Instrumentenkastens. Sein Blick strich über einige Euro-Münzen, die zuletzt hineingeworfen wurden, und einen Fünf-Euro-Schein.
„Für heute ist es genug“, erklang die Stimme des jungen Mannes und der alte Mann blickte aufmerksam zu seinem Spiegelbild zwischen den Plakaten.
„Du hast in acht Stunden fasst zwanzig Euro erhalten. Das reicht für die Schmerztabletten, eine warme Mahlzeit und die Unterkunft in der Sozialstation für Obdachlose“, erklang der Widerhall der jungen Stimme im Kopf des alten Mannes.
„Ja“, hauchte es aus den aufgeplatzten Lippen des alten Mannes hervor.
Die Finger schmerzten ihn. Die Arthrose hatte vor vielen Jahren begonnen und die Gelenke zunehmend degeneriert.
Kaum ein Finger bewegte sich mehr. Täglich brauchte er Schmerzmittel, um die wenigen nötigen Bewegungen auszuführen. Im Laufe des Tages hatte sich seine Tablettenpackung geleert. Und nun konnte er sich für die Nacht und den morgigen Tag eine neu leisten.
Auch die Nacht zum Schlafen war gesichert und die für ihn wichtige warme Abendmahlzeit ebenfalls.
Die Sonne senkte sich und die erste Abendkühle kam auf. Die Menschen hetzten aus der Schwebebahnhaltestelle kommend an ihm vorbei und erkannten nicht den Musiker.
Der alte Mann nahm das Geld aus dem Deckel, strich den blauen Satin wieder glatt und befreite die leere Ausbuchtung für das Altsaxophon von den hineingefallenen Blättern.
Die Ausbuchtung war schon lange Zeit leer. Da wo einst das Altsaxophon auflag, waren kleine Abdrücke im Satin zu sehen. Reminiszenzen an eine schon längst vergangene Zeit.
Noch einmal betätigte er in Gedanken das Klappensystem jenseits vom Alt, noch einmal war er der junge Musiker und noch einmal schmerzte ihn nichts.
Der alte Mann war glücklich und zufrieden und schloss als junger Musiker für heute den Deckel des leeren, alten Instrumentenkastens.
Eine Kurzgeschichte von Dr. Ingo Hoffmann, Wuppertal im März 2018.