Max Müller tanzte in seiner Studentenwohnung im Christophorusweg nahe der Georg-August Universität in Göttingen. Dabei sang er voller Inbrunst zu dem Lied Dein ist mein ganzes Herz.
Er war verliebt. Bis über beide Ohren verliebt und glücklich.
Die Sonne lachte durch das speckige Fenster in sein chaotisch möbliertes und unaufgeräumtes Zimmer. Der letzte freie Quadratmeter seines Einzelappartements befand sich in der Mitte des Raumes und war seine große Bühne, seine Tanzfläche auf der er allen seinen Gefühlen Ausdruck verlieh.
Um ihn herum lagen zahllose neurobiologische Bücher teils geöffnet in Schichten übereinander, teils zu Türmen gestapelt und abgegriffene, in schwarzem Leder eingebundene Moleskine-Notizbücher.
Es waren die handgeschriebenen Moleskine-Notizbücher des verstorbenen Prof. Dr. Ruben Te Delco, der sich Zeit seines Lebens mit extremen Forschungen auf dem Gebiet der Neurobiologie und dort speziell mit dem menschlichen Bewusstsein beschäftigt hatte.
Te Delco forschte im letzten Jahrhundert an der Universität Göttingen. Viele seiner bahnbrechenden Ergebnisse entstanden durch wissenschaftliche Arbeiten hart an der Grenze zur Legalität.
Über diese Forschungen des Professors gab es keine Veröffentlichung in renommierten Fachzeitschriften. Nur die Notizen in den Moleskinen zeugten von der wissenschaftlichen Arbeit im Grenzbereich des menschlichen Bewusstseins.
Diese Exklusivität der Bücher gegenüber den Fachzeitschriften hatte Max bereits als Jugendlicher herausgefunden und auch, dass es keine Kopien oder Zweitschriften von den Dokumenten gab.
Er war alleiniger Besitzer der Originalnotizen und des damit verbundenen, tiefen Wissens über das menschliche Wesen.
Max hatte eine bewegte Kindheit. Höhen und Tiefen wechselten zeit seines Lebens in rascher Folge. Den vorläufigen Abschluss dieses Wechselbades der Gefühle markierte der Autounfall seiner Eltern.
Dabei starben seine Eltern vor zwei Jahren und hinterließen ihm das Haus, das sie sich durch einen üblen Betrug von dem Sohn des Professors erschlichen hatten.
Max war mit knapp zehn Jahren maßgeblich an dem Betrug beteiligt gewesen und hatte sich damals als Seelenempfänger des Professors ausgegeben.
Eine brillant einstudierte Rolle, die er in jenen Tagen perfekt spielte.
Dem Sohn – Arno Te Delco – hatte Max dabei vorgegaukelt, dass der Vater – Ruben Te Delco – seine Seele auf ihn übertragen habe. Der kränkliche Arno Te Delco hatte den Schwindel geglaubt, sich mit seinem Vater – alias Max Müller – ausgesprochen und Max schließlich zu seinem Erben gemacht.
Als Arno starb, zogen die Müllers in das Haus von Arno ein, dass dieser erst wenige Jahre zuvor von seinem Vater Ruben geerbt hatte.
In der Pubertät hatte Max seine Unehrlichkeit und die seiner Eltern angewidert und er wäre fast zerbrochen. In dieser Stimmung fand er eines Tages im Haus des Professors auf dem Dachboden die Notizbücher wieder, die seine Eltern versteckt hatten.
Diese Bücher waren ein wesentlicher Stützpfeiler des damaligen Betrugs. Max nahm sie als pubertierender Jüngling zunächst als Mahnmal in sein Jugendzimmer, doch später interessierte er sich mehr und mehr für den wissenschaftlichen Inhalt.
Max studierte schon in diesem jungen Alter intensiv die geheimen Monografien des Professors. Jede neue Erkenntnis, Seite für Seite, lies sein Interesse an der Neurobiologie wachsen.
Aus dem anfänglichen Interesse wurde Besessenheit und es keimte in ihm der brennende Wunsch Neurobiologie zu studieren.
Nach seinem Einser-Abitur begann er das Wunschstudium an der Universität Göttingen und absolvierte das Bachelorstudium als Jahrgangsbester.
Als Masterstudent hofft er nun darauf, in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Gausberg-Hahnefeld – dem Nachfolger von Prof. Dr. Ruben Te Delco im Institut für Zoologie und Anthropologie – einen Platz als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern und seine Promotion zu beginnen.
Die Sonne heizte das Zimmer auf. Aus der Stereoanlage erklang das Lied Rückenwind. Eigentlich ein Lied für sehr ruhige Momente, doch Max drehte die Lautstärke weiter hoch und tanzte wie in Trance mit sanften Bewegungen. Als er zu der Liedzeile Wir schreiben neue Regeln, weil wir selbst der höchste Einsatz sind sang, ran ihm eine Träne aus den Augen.
Mit seinen schlanken Fingern nahm er das jüngste Moleskine vom Schreibtisch. Dieses Buch hatte er erst vor ein paar Wochen unter einem Stapel von Fachbüchern wiedergefunden. Max öffnete es mit der Lesezeichenschnur und betrachtete das Portrait seiner Angebeteten.
Der alte Te Delco nannte sie in seinen Notizen liebevoll Ramona.
Der klare Blick, die langen hellblonden Haare und die scheinbar ewige Jugend erinnerten Max an einen Engel.
Der sinnliche Mund weckte verlangen und versetzte ihn jedes Mal in eine romantische Stimmung. Von Mal zu Mal wuchsen die Gefühle und steigerten sich bis zu einer aufgewühlten, kribbeligen Stimmung.
Max war verliebt in Ramona.
Er war verliebt in eine Tote.
Als Realist bewertete er die Situation nüchtern: In ein Bild hatte er sich verliebt. Ein Bild das vermutlich das Jugendbild einer Toten war. Denn aufgrund der Altersangaben in dem Buch war er sicher, dass Ramona bereits gestorben war.
„Mach die Musik leiser!“, bellte eine Stimme befehlend durch die Wand seiner Studentenbude.
Der Lüder, dachte Max verärgert, verdingt sich als polnischer Handelsvertreter und meint ihn mit Normkommentaren aus seiner guten Stimmung holen zu müssen.
Ein Flur-Frettchen und Treppenterrier, der ahnungslose Opfer an deren Haustür dusselig quatschte und ihnen den letzten Schrott völlig überteuert andrehte.
Max dachte an die Eheringe als Zungenpiercing und die Mikro-Flesh-Tunnel für die Augenlider. Ihn erschauderte der Gedanke an die auf der Hornhaut schleifenden Metallteile und er schüttelte sich.
Lüder war in seinen Augen ein typischer Vertreter aus dem fraktalen Rand der Gesellschaft, wo jeder glaubt, es gibt noch asozialere Personen als sich selbst.
Er wollte keinen Streit – jedenfalls jetzt nicht – und so drehte er an der Stereoanlage die Musik auf Zimmerlautstärke herunter.
„Na geht doch!“, feixte Lüder hörbar und Max ballte eine Faust zum Schlag gegen die Wand.
Er ließ es sein, Lüder war es nicht wert.
Statt seiner Wut freien Lauf zu lassen, las Max zum wiederholten Male die Zeilen von Ruben Te Delco.
20. Januar 1985:
Ramona erntete etwa ein Kilogramm der schwarzen Beeren vom Janus-Strauch.
Beim anschließenden Digerieren extrahierte sie knapp hundert Milliliter des kostbaren Saftes aus den Beeren.
Wir filterten den Extrakt in mehreren Stufen und begannen nach einer Stunde mit Phase zwei.
Es folgten eine kleine Zeichnung und weitere technische Details über die nächsten Schritte, die zur Herstellung der Janus-Droge notwendig waren. Einer hochwirksamen Droge mit der Ruben Te Delco das menschliche Bewusstsein aus- und wieder einschalten konnte.
Was Max in diesem speziellen Buch aber mehr interessierte, waren die privaten Notizen des Professors, die mit dem Kürzel PN begannen.
PN: Ramona scheint nicht zu altern, sie ist jetzt vierzig und genauso schön wie vor zehn Jahren, als wir uns zum ersten Mal in der Universitätsbibliothek begegneten.
Max schaute auf das Bild und konnte nicht glauben, dass Ramona auf dem Bild vierzig war. Für ihn sah sie wie etwa zwanzig aus, also genau in seinem Alter.
Er blätterte weiter.
5. Februar 1985:
PN: Ramona hat heute Geburtstag. Sie wirkt gelöst. Ihre Forschungsarbeit über die Behandlung von Angststörungen bei Primaten wurde in der Fachzeitschrift akzeptiert. Seit einem Jahr ist sie meine beste Assistenzprofessorin und ich freue mich sehr für sie.
Den Titel der Fachzeitschrift konnte er unter dem Kaffeefleck nicht mehr entziffern. Die Bibliotheks-Recherche hatte auch nichts ergeben. So oft er es auch in der Vergangenheit probierte, der Aufsatz von Ramona war nicht zu finden. Es fehlten einfach der Nachname von Ramona und der Titel der Zeitschrift.
Schade, dachte er, wie gerne würde ich diese Facharbeit lesen und mehr über Ramona erfahren. Zu faszinierend war ihre Arbeit zu ansprechend ihr Gesicht, als dass er an dieser Stelle mit seinen Nachforschungen hätte aufhören können.
Für heute Abend hatte er sich daher vorgenommen in der Universität nach dem Geheimlabor des Professors zu suchen. In ihm brannte die Hoffnung, dort weitere persönliche Details über seine große Liebe Ramona zu finden. Vielleicht, so vermutete er, würde er dort auch eine Kopie ihres Aufsatzes entdecken und an sich nehmen können.
Ruben Te Delco hatte in vielen Nebensätzen interessante Hinweise auf sein geheimes Labor hinterlassen. Die verstreuten Andeutungen beschrieben das Labor nahezu vollständig.
Jedoch waren über die Lage des Labors in der Universität nur wenige konkrete Anhaltspunkte zu finden. Dennoch hatte Max aus den fragmentarischen Indizien in den letzten Wochen einen Lageplan erstellen können. Er war überzeugt, dass der Plan stimmte und ihn mit großer Sicherheit zu dem Labor führen würde.
Derart präpariert wollte er in der heutigen Nacht auf die Suche nach dem Eingang zum Labor gehen und die letzten Geheimnisse von Te Delco und Ramona ergründen.
Im Bad stand er vor dem Spiegel und stutzte seinen Dreitagebart. Sein durchdringender Blick aus blauen Augen signalisierte Zielstrebigkeit. Aus dem Nebenzimmer ertönte passend zu seiner Stimmung das Lied Mit Leib und Seele. Nach dem Zähneputzen kleidete er sich an und verstaute die vorbereiteten Werkzeuge.
Mit der untergehenden Sonne verließ Max das Studentenwohnheim.
Ein leichter lauwarmer Wind säuselte um die Häuserecken. Gelächter, Gesang und Gitarrenklänge drangen an sein Ohr. Schwach vernahm er den Refrain Ich geh meine eigenen Wege. Irgendwo grillten ein paar Studenten. Es roch intensiv nach Bratwurst und Räuberfleisch.
Rauchend stand Lüder an seinem Fenster im Schein der roten Abendsonne und blickte auf die schwarz gekleidete Gestalt. Er erkannte Max an seinen blonden Haaren und dem hünenhaften Körperbau.
Die aus dem Rucksack herauslugende Taschenlampe und das um den Körper gebundene Seil erregten seine Neugierde.
Flink drückte er die Zigarette aus und warf sich die dünne Kapuzenjacke über. In einem großen Abstand folgte er Max.
Beim Verlassen des Wohnheimgeländes bemerkte Max seinen Verfolger nicht, er war zu konzentriert auf sein Ziel und seine Aufgabe.
An der nächsten Ecke bog Max links in die Goßlerstraße ein und folgte ihr bis zum Käte-Hamburger-Weg. Den Weg schlenderte er unverdächtig bis zum Portal des Jacob-Grimm-Haus entlang.
Inzwischen war es dunkel geworden. Nur spärlich erleuchteten die Straßenlaternen den Vorplatz. Etwas Wind säuselte durch die Bäume, ein sanftes Rascheln der Blätter untermalte die Stimmung.
Max blickte in den zweiten Stock und sah zu seinem Entsetzen das hell erleuchtet Büro von Prof. Gausberg-Hahnefeld. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Dozent so spät noch in der Uni war.
Jetzt muss alles ganz leise ablaufen, sagte er sich und trat durch den noch offenen Haupteingang in das Gebäude.
Schnell war er treppauf und stand vor dem verschlossenen Eingang zum alten Seziersaal.
Sein Blick auf den Zettel an der Tür informierte ihn darüber, dass im Theater im OP für unbestimmte Zeit wegen Bauarbeiten keine Vorstellungen mehr stattfinden.
Max lauschte und blickte sich um. Er war allein.
Rasch stieg er die nächste Treppe hinauf und stand nun auf dem oberen Treppensims vor einer Büste.
Hinter der hohen Vitrine, die ein Abbild des Kopfes der schwedischen Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf enthielt, zeichnete sich schwach eine Tür ohne Klinke ab. Das Türblatt war in gleicher, dicker Farbe wie die Wand gestrichen und sicher seit Jahrzehnten nicht geöffnet.
Die Vitrine zur Seite schieben und die Tür nahezu lautlos aufhebeln ging rascher als gedacht, denn die Tür war nur angelehnt und mit Farbe in den Rahmen geklebt.
Er trat in den dunklen Raum ein, der nach seinem Plan in etwa über dem alten Seziersaal und halb schräg über dem Büro seines Dozenten liegen musste.
Das spärlich einfallende Flurlicht erhellte die ersten Meter des Labors, dahinter war ab und an noch eine Glasspiegelung zu erkennen, sonst nichts.
Ein süßer Duft empfing ihn.
Im Treppenhaus ging das Licht aus, schlagartig wurde es in dem Raum stockdunkel. Max fingerte nach seiner Taschenlampe.
Der Strahl seiner Lampe leuchtete die Wände ab und überstrich alte Laborgeräte, verstaubte Bücher in Regalen, Zeichnungen von Zellstrukturen und eine Tafel mit dem Periodensystem der Elemente.
An der hinteren Wand erkannte Max eine Ikone, die einen Hünen mit Stab darstellte. Die Illustration zeigte einen altertümlich gekleideten Mann, der mit einem Kind auf seinen Schultern durchs Wasser watet.
Der süße Duft stieg ihm unaufhörlich in die Nase und er fühlte sich beschwingt im Geist, aber schwach im Körper.
Im hinteren Teil des Raumes stand vor einem alten Schreibtisch ein Drehstuhl. Max setzte sich darauf und drehte sich auf ihm zur Mitte des Raumes.
Die bleierne Schwere in den Beinen machte ihm zu schaffen. Jetzt schwand auch noch seine Konzentration und die Erinnerung daran, wo er anfangen sollte verblasste zunehmend. Der Plan zur Exploration des Labors zersetzte sich vor seinem geistigen Auge in den Schwaden des süßen Dufts.
Das Odeur manifestierte sich und er erkannte Rauch im Schein der Lampe.
Aus dem Rauch tauchte erst schemenhaft und dann deutlicher eine Gestalt auf.
„Guten Abend Max“, sprach ihn Ramona an. Durch das Taschentuch vor ihrem Mund klang ihre Stimme dumpf.
Irgendetwas in Max forderte ihn auf überrascht zu sein, doch er war es nicht.
Stumm saß er da. Der süße Duft lähmte ihn. Starr blickte er auf die schlanke zierliche Gestalt vor sich.
„Ich habe schon lange auf diesen Moment gewartet“, fuhr Ramona fort, „die Rache für den Betrug an meinem Onkel Arno Te Delco ist nun mein.“
Entsetzt starrte Max Ramona an. Sein Mund öffnete sich, doch kein Laut war zu hören. Wirre Fragen türmten sich in seinem Hirn. Die Zusammenhänge waren nicht zu verstehen und logische Erklärungsmuster lösten sich mehr und mehr im süßen Duft auf.
„Sterben wirst Du. An der Überdosis der Janus-Droge sterben“, fauchte Ramona wütend.
Seine große Liebe, die tot geglaubte Assistentin des alten Ruben Te Delco, wollte ihn nun töten. Die Droge unterdrückte seine Angst und unterband klares Denken. Sämtliche zeitlichen und räumlichen Verbindungen zerfielen, ihm schwanden die Sinne.
Ohnmächtig kippte er vornüber von dem Drehstuhl.
Der Stuhl schoss nach hinten und prallte vor ein hölzernes Regal mit Laborgläsern. Ein morscher Regalfuß brach ab und das Regal kippte nach vorn. Hunderte von verschiedenen Gläsern schlugen laut klirrend auf dem Boden auf.
Der Lärm durchzog die Flure und war im ganzen Jacob-Grimm-Haus zu hören.
Ramona erschrak. Der Tod kam zu schnell. So vieles hatte sie Max noch vorwerfen wollen, doch jetzt lag er ihr zu Füßen.
Sie schluckte. Einen kalten Racheplan nur zu ersinnen, war etwas ganz anderes, als ihn in die Tat umzusetzen. Diese Erkenntnis blitzte kurz vor ihrem geistigen Auge auf. Ihre Gedanken und ihr Herz rasten.
Der Krach der klirrenden Gläser war enorm gewesen. Die Angst entdeckt zu werden packte Ramona.
Wie von Sinnen, sprang sie die Treppe des Gebäudes hinunter und lief im Erdgeschoss Lüder in die Arme.
„Julia, was machst Du denn hier?“, fragte Lüder fassungslos und wollte sie am Arm greifen, doch sie entwischte ihm und sprang zur Tür hinaus. Im Dunkel der Nacht verschwand Julia in der Humboldallee.
Lüder schoss die Treppe hinauf und sah, wie der sportlich wenig trainierte Prof. Gausberg-Hahnefeld Max an den Füssen aus dem muffigen Labor in den Treppenflur zerrte.
„Er lebt noch, rufen Sie den Notarzt und die Polizei“, befahl der Dozent außer Atem und mit Schweißperlen auf der Stirn.
Lüder befolgte die Anweisungen und wenige Minuten später war das Treppenhaus überfüllt von Ärzten und Polizisten. Feuerwehrleute mit Atemschutzmasken und schwerem Gerät lüfteten das Geheimlabor. In den Ecken des Labors entdeckten die Feuerwehrmänner kräftig dampfende Vaporisatoren, deren Stromanschluss über eine Funksteckdose erfolgte.
Der Mordanschlag in der Universität hatte eine ganze Kette von Ereignissen in der alarmierten Polizeibehörde ausgelöst. Der Vorfall wurde als versuchter Mord behandelt und Kommissar Lomback war umgehend mit den Ermittlungen beauftragt worden.
Im Jacob-Grimm-Haus verschaffte er sich einen groben Überblick und begann noch vor Ort mit der ersten Zeugenvernehmung.
„Ich benötige Ihre Personalien“, wand er sich an Lüder und den Dozenten.
Die drei Gestalten bildeten eine kleine Gruppe etwas abseits des Portals.
„Krzysztof Lüder“, antwortete Lüder nervös und schickte gleich noch die Adresse und sein Geburtsdatum hinterher.
„Gausberg-Hahnefelde, Christoph Gausberg-Hahnefeld“, gab der Dozent mit noch schwacher Stimme zu Protokoll. Seine Atemwege waren etwas gereizt.
Lomback notierte sich ebenfalls Adresse und Geburtsdatum des Dozenten und blickte zu den beiden Zeugen auf.
Er spürte ihre verängstigte Anspannung.
„Na das ist ja ein Zufall“, bemerkte Kommissar Lomback, „mein Name ist Christoph Lomback. Heute am 24. Juli ist unser gemeinsamer Namenstag.“
Für einen kurzen Moment wich die Anspannung einem Lächeln.
In den folgenden Minuten stellte Lomback weitere Fragen zu Beobachtungen, Tathergang, Täterbeschreibung und sonstigen Auffälligkeiten.
Während er die letzten Sätze der Aussagen von Lüder und dem Dozenten noch protokollierte, wurde Max auf einer Trage in den Notarztwagen geschoben.
Lomback beendete die Befragung und entließ die Zeugen.
Der Notarztwagen raste den Käte-Hamburger-Weg hinunter und bald schon verschwand das Blaulicht zwischen den Häuserzeilen im dunstigen Dunkel.
Noch in derselben Nacht wurde Julia Fischer wegen des versuchten Mordes an Max Müller von der Polizei verhaftet.
Wenige Stunden später, um Punkt acht Uhr am folgenden Morgen, wurde Julia Fischer in das Büro von Kommissar Lomback zum Verhör geführt.
„Möchten Sie einen Kaffee, Frau Fischer“, fragte Lomback und deutete auf die knatternde Kaffeemaschine auf dem Sideboard.
Sie schüttelte den Kopf.
Lomback berichtete Julia, dass Max am Leben sei und nach Aussage der Ärzte bald das Bewusstsein wiedererlangen würde. Das tat er, um den Druck aus dem Gespräch zu nehmen und Julia zum Reden zu bewegen.
Dennoch wirkte sie abwesend und blickte auf den kalten Tisch. Dabei knetete sie ihre Hände und kaute auf den Lippen.
„Was hat Sie nur dazu getrieben, den jungen Mann zu töten?“, wollte Lomback nun von Julia wissen.
Die Sonne schien in das Büro und die schwebenden Staubteilchen tanzten im aufwärtsstrebenden Luftstrom.
„Dieser Mistkerl hat mich um mein Erbe gebracht“, begann Julia, „er hat mit seinen Eltern nicht nur meinen Onkel Arno betrogen, sondern auch meine Mutter und mich um das Erbe gebracht. “
Der Kommissar bemühte sich, aus den folgenden Erklärungen die familiären Zusammenhänge zu rekonstruieren. Pfeile und Linien auf dem Blatt verbanden die Namen.
An den Linien standen kleine Notizen:
Professor Ruben Te Delco hatte einen kinderlos gebliebenen Sohn Arno.
Die Großmutter von Julia war die Schwester des Professors.
Julias Mutter war die Cousine von Arno.
„Erklären Sie mir bitte genau, was es mit dem Betrug auf sich hat“, forderte Lomback sie auf.
Julia berichtete, wie Max und seine Eltern sich das Haus von Arno vor zehn Jahren erschlichen hatten, indem sie die Forschungen des alten Ruben bemühten und Max als Seelenempfänger des verstorbenen Professors darstellten.
„Wie habe Sie davon erfahren? Sie waren damals doch auch erst knapp elf Jahre alt. “
„Durch die Tagebücher meiner verstorbenen Mutter und meiner Großmutter “, begann Julia ihre Erklärung und erzählte weiter, dass in den Tagebüchern ihrer Oma viele Gespräche mit Ruben wortgetreu wiedergegeben waren.
Aus den Büchern ihrer Großmutter hatte sie von den Forschungen des alten Professors erfahren, der lieber mit seiner Schwester als mit seiner Frau über seine Forschungen sprach. Und nach dem frühen Tod seiner Frau sich auch keinem anderen mehr anvertraute.
„Erlangten Sie aus den Tagebüchern auch Kenntnisse über das geheime Labor über dem Seziersaal?“
Julia nickte.
„Antworten Sie bitte, das Verhör wird aufgezeichnet.“
„Ja, hatte ich.“
„Erklären Sie mir bitte, wie Sie Max Müller in das Labor locken konnten.“
„Bei den Tagebüchern lagen auch handgeschriebene Briefe von Ruben. In den Briefen standen Hinweise auf die Moleskine-Notizbücher. Diese Notizbücher beschrieb er als einzige Aufzeichnung seiner geheimen Forschungen mit der Janus-Beere.“
Lomback notierte sich einige Details auf seinem Block.
„Ich besorgte mir ein solches Büchlein und präparierte es mit gezielten Falschinformationen und einer Zeichnung von mir. Die Seiten tränkte ich mit einer Lösung, die Oxytocin enthielt. Damit wollte ich bei ihm ein Begehren und Bindungsverlangen auslösen.“
Der Kommissar notierte sich den Namen des chemischen Stoffes, dessen Wirkungsweise er nach dem Verhör recherchieren wollte.
Julia berichtete weiter, wie sie mit dem Zimmernachbarn Krzysztof Lüder in Kontakt trat und die Bekanntschaft mit ihm auf kleiner Flamme – wie sie meinte – pflegte.
Unbemerkt von Max habe sie öfter in den letzten Monaten Lüder besucht und eine Reihe interessanter Informationen über ihr Opfer erfahren.
Bei einer passenden Gelegenheit habe sie das Buch in Max Zimmer unter einem Stapel von Fachbüchern versteckt, während dieser zum Wäschewaschen im Keller war und die Tür zu seinem Appartement offen ließ.
Fortan – so gab sie weiter zu Protokoll – beobachtete sie Max auf Schritt und Tritt und wartete darauf, dass Max das präparierte Labor aufsuchen würde.
Sie hatte sich erhofft, dass durch den Tod von Max, Arno Te Delcos Haus ihr zugesprochen werden würde, wenn sie sich als Verwandte zu erkennen gab.
Ein naiver Gedanke, wie sie jetzt erkannte. Das klare Denken war ihr vorher durch Rachegelüste verwehrt gewesen.
Bitterkeit und Reue ergriff sie. In was für eine unmögliche Situation hatte sie ihr Racheplan gebracht? Warum war es soweit gekommen? Fragen, auf die sie keine Antwort fand. Sie konnte sich ihr Verhalten selbst nicht erklären. Nur eines stand für sie fest, sie hatte sich verrannt.
Der Kommissar stellte noch ein paar kleinere Detailfragen, die das Geständnis abrundeten und die Anklage wasserdicht machten.
Ein paar Wochen vergingen bis zum Prozess.
Der Spätsommer kam und wartete noch mit einigen warmen Tagen auf. Der leichte Wind war angenehm mild und die Sonnenblumen standen auf den Feldern in schönster Pracht.
Der anberaumte Prozess war angesichts des offenen Geständnisses kurz und der vom Gericht bestellte Pflichtverteidiger konnte nur wenig am Strafmaß ändern.
Julia Fischer wurde vom Gericht wegen des versuchten Mordes an Max Müller zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Strafe trat sie in der seit Kurzem auch für Frauen eingerichteten Justizvollzugsanstalt Rosdorf sofort an und in den ersten Tagen im Gefängnis erlebte sie in der kahlen Zelle die ernüchternde Wirkung der Einsamkeit. Der einfache Tagesrhythmus gab ihr reichlich Zeit zum Nachdenken.
Die Tage wurden kürzer und ihre Stimmung gedrückter.
Kühler Abendwind spielte den Vorboten des Herbstes. Die ersten Laubbäume wechselten ihre Farbe. Auf einigen Feldern war schon die Wintersaat ausgebracht worden.
Max Müller überlebte den Mordanschlag und war körperlich nach etwa drei Monaten wieder vollständig genesen. Mit der Lunge würde er weiterhin etwas Probleme haben, prognostizierten die Ärzte bei einer der Visiten, aber auch das würde sich mit der Zeit geben.
Zwischendurch waren die Besuche des Kommissars und dessen Fragen eine willkommene Ablenkung für ihn. Sogar Lüder besuchte ihn öfter und lenkte ihn mit seinen Vertreterthemen angenehm vom Grübeln ab. Einmal war auch sein Dozent für ein paar Stunden zu Besuch und besprach mit ihm Details seiner künftigen Aufgaben in der Arbeitsgruppe Neurobiologie. Das empfand er als sehr schön. Aus dem Gespräch schöpfte er ein wenig Hoffnung, dass die Zukunft besser werden würde.
In den vielen Stunden zwischen den Behandlungen war er jedoch einsam und grübelte vor sich hin. Er dachte viel an Julia Fischer, die er nur als Ramona aus den Notizbüchern kannte. Sonst wusste er nichts Persönliches von ihr, nur die spärlichen Fakten im Zusammenhang mit dem Mordanschlag auf ihn.
Das Moleskine mit ihrem Bild hatte der Kommissar ins Krankenhaus mitgebracht und ihm zurückgegeben. Seine Gedanken kreisten nur noch um sie. Das Seelenrauschen war geblieben, es hatte nur eine andere Tonlage angenommen: Er war verliebt, aber traurig.
Max entschloss sich nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, Julia im Gefängnis zu besuchen. Er konnte nicht anders, er musste sie sehen. Er musste mit ihr reden und Antworten von ihr bekommen.
Bei dem ersten Besuch im Gefängnis war er sehr nervös und auch Julia zeigte eine aufgeregte Stimmung. Eigentlich wollte sie ihn gar nicht empfangen. Doch anschließend war sie froh, dass sie mit ihm gesprochen hatte.
In den folgenden Monaten besuchte er sie regelmäßig und sie sprachen oft mehrere Stunden miteinander.
Er brachte ihr kleine Geschenke, Pralinen und Blumen mit und sie freute sich über die liebevoll verpackten Präsente. Anfangs tauschten sie ihre Gedanken über den Mordversuch aus, dann versuchten sie die fernere Vergangenheit zu verarbeiten und schließlich handelten ihre Gespräche nur noch von aktuellen Themen.
Max erzählte ihr von seinem Studium und Julia von ihren schaurigen Erlebnissen im Gefängnis.
Durch den intensiven Kontakt und die tiefen Gespräche änderte sich ihre Einstellung zu Max und spätestens um Weihnachten herum – so ihre spätere Erinnerung – verliebte sie sich in ihn.
Im Frühling des folgenden Jahres hielt Max um ihre Hand an.
Den Heiratsantrag von Max nahm Julia gerne an und so planten beide in den folgenden Wochen ihre Hochzeit in der Gefängniskapelle St. Christophorus.
Am 24. Juli – genau ein Jahr nach dem Mordanschlag auf den Bräutigam Max Müller – fand die Hochzeit in der kleinen Kapelle statt.
Neben den aus der Kirchengemeinde rekrutierten Trauzeugen, waren auch Kommissar Christoph Lomback, Professor Christoph Gausberg-Hahnefeld und Krzysztof Lüder anwesend. Die Dreiergruppe saß in einer der hinteren Reihen in der schmucklosen Kapelle.
Der Gefängnispfarrer berichtete in seiner kurzen Predigt von dem Namenspatron der Kapelle, dessen Andenken die Menschen mit dem heutigen Namenstag feierten.
„Christophorus war einer der vierzehn Nothelfer, die die katholische Kirche als Schutzpatrone kennt“, erklärte der Pfarrer und setzte fort, „als Hüne mit Wanderstab ein Schutzpatron für die Rettung aus jeglicher Gefahr und Helfer gegen den unvorbereiteten Tod“.
Auf die im weiteren Verlauf der Hochzeitszeremonie gestellte Frage, ob sie in guten wie in schlechten Zeiten zusammenstehen wollen, antworteten beide: „Von ganzem Herzen, Ja!“
Das ‚Ja‘ fiel dem Paar leicht, denn die schlechten Zeiten hatten sie bereits hinter sich und es würden nur noch gute kommen, auch wenn die nächsten sieben Jahre noch Entsagungen für beide bedeuteten.
Zum Ende der Hochzeitszeremonie spielte der Organist auf der kleinen Orgel und die Anwesenden sangen zu dem Wunschlied des Paares Ich brauch Dich jetzt.
Eine Kurzgeschichte von Dr. Ingo Hoffmann, Wuppertal am 24. Dezember 2015.