Dichter Nebel wogte in der frühen Morgendämmerung vom warmen Meer in seichten Wellen über den Paradeplatz und waberte sanft um die angrenzenden, noch leeren Säulen der Statuen.
Alltäglich überquerten die Tiere diesen Schauplatz und zogen in den Wald oder kamen aus ihm zurück.
Es war jeden Tag ein aufregendes Hin und Her allerlei Getier, das sich keine Statue entgehen lassen mochte.
„Beil dich“, forderte Lukian Archilocha auf, „lass alles stehen und liegen, wir sind schon spät.“
„Ja, Lukian“, erwiderte der behauene Marmor. „Ich weiß, unsere besten Säulen am Platz sind nur früh zu bekommen.“
Und so besetzten Lukian und Archilocha wie jeden Tag die beiden vordersten Frontsäulen.
Die beiden Statuen folgten damit ihrem Motto: Was nicht geht, bleibt zwar sitzen, aber dann auf den besten Plätzen!
Sie gehörten der frustrierten Grenzschicht zwischen Mittel- und Oberschicht an und die tägliche Tierparade war ihre Ablenkung vom eigenen Nichts.
Die beiden besten Säulen bildeten ihre Machtenklave, von der aus sie nach langem aktiven Nichtstun am Morgen mit ihren Lästereien die alltägliche Parade am Mittag kommentierten.
Zuerst kamen die Hirsche und zogen in den Wald, das alte Leittier voran.
Die zahllosen Narben und Verletzungen vergangener Brunftkämpfe zeigten sich im unsicheren Schritt.
„Schau dir den Herdenauftrieb von Würdenträgern an. Und siehe nur, wie der Erste humpelt und strauchelt“, erhob Lukian seine steinerne Stimme und es dröhnte aufdringlich das Echo über den Platz.
„Es gibt sicher im ganzen Reich kein erbärmlicheres Tier, das so edel wirken will, aber sich in einer Nacht im Wirtshaus derart sturmreif saufen kann“, verhöhnte Archilocha für alle gut hörbar bissig das geknickte Schreiten des alten Hirschs.
Archilocha und Lukian lachten sich gegenseitig lauthals zu. Sonst lachte keiner.
Nach den Hirschen kamen die Enten und Hennen. Und die beiden Statuen lästerten, frotzelten und alberten munter weiter.
„Tuk-Tuk-Tuk. Das Watscheln bekommt euch nicht, davon werden die Füße platt.“
„Springt schnell wieder in euren Teich und versucht nicht zu nahe am Rande der geistigen Gesundheit herumzuschwimmen“, schallte es herzlos aus dem kalten Marmor der Archilocha.
Bis spät am Nachmittag wechselte noch mancherlei Tier über den Platz und keines kam ohne abfällige Bemerkungen davon.
Einige der anderen Statuen wendet sich ab, andere überhörten die Bissigkeit und ein Teil gab sich dem Fremdschämen hin.
Keine Statue wagte etwas zu sagen.
Es war die Angst, selbst ins Kreuzfeuer der Häme zu geraten, die jede Statue versteinert ließ.
Die Frontsäulen standen für die lästernden Statuen an einem idealen Ort. Von hier aus konnten die beiden wohl intoniert und im Stakkato die Teilnehmer der Parade mit verbalem Schmutz und Häme beschießen.
Der Wechsel der Tiere neigte sich dem Ende, die Sonne stand schon schräg und eine milde Wärme ersetzte die Gluthitze des Mittags.
Zuletzt kamen die Löwen aus dem Wald über den Platz.
Von der Jagd erschöpft und ruhebedürftig, trachteten sie nach einem schattigen Eckchen in ihrem Gebiet am Rande der Steine.
„Was für eine imposante Herde von Krüppelkühen“, polterte Lukian los und lachte lauthals aus fester Brust.
„Jeder Jäger kommt irgendwann mit Schrammen aus dem Wald. Ihr habt aber keine. Wart ihr überhaupt jagen, oder habt ihr euch am Aas bedient?“, wand sich Archilocha Beifall heischend an die Umhersitzenden und blickte hochnäsig über die Löwen hinweg.
„Ihr seid ja so schlapp, dass ihr kaum mehr den Berg hochkommt“, ergänzte Lukian demütigend.
Es war, wie mit Petroleum ein Feuer zu löschen. Die Stimmung war explosiv.
Der Wind säuselte dem Silbernacken der Löwen mahnend ins Ohr: „Dein Respekt wird schwinden, lass dir das nicht gefallen!“
Der Silbernacken stellte sich zwischen die Säulen der beiden Statuen. Die beiden Lästermäuler steckten die Köpfe zusammen und lugten nach unten.
Der Löwe reckte den Kopf und sprach: „Eine Methode den Berg zu erklimmen kann auch darin bestehen, aus den im Weg liegenden Steinen eine Treppe zu bauen.“
Beim Ausklang seiner letzten Worte stieß er mit dem Hintern an die Säule des Lukian. Der daraufhin von seinem steinernen Thron in den Abgrund stürzte.
Die anderen Statuen hüpften auf ihren Säulen und mit dem lautstark vernehmbaren, rhythmischen Steinschlag als Beifall bekundeten sie ihre Zustimmung.
♦ Hochmut kommt vor dem Fall. ♦
Eine Fabel von Dr. Ingo Hoffmann, Wuppertal im Februar 2018.