Der Weihnachtsbaum

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Es waren einmal zwei Männer, die lebten in einem Haus. Eigentlich war es kein Haus, aber sie nannten es so.

Die Männer wohnten in zwei Zimmern, die durch eine Wand getrennt waren. Die Türen der Zimmer öffneten sich zu einem gemeinsamen Flur. In dem sie sich gelegentlich trafen.

Es war ihnen unmöglich, dieses Haus zu verlassen. Alles was sie benötigten wurde ihnen bereitgestellt. Was sie sich wünschten – so fern es realisierbar war – wurde ihnen gebracht.

Eigentlich gehörten die Männer zusammen, denn einst waren sie sehr, sehr gute Freunde und wohnten in diesem Haus mit nur einem Zimmer und ohne Flur. Doch vor einigen Jahren trennten sich Ihre Wege in dem Haus und sie bauten schweigend eine Mauer zwischen sich.

So lebten Sie Tag ein Tag aus, wünschten sich das, was sie benötigten und sprachen wenig. Die Zeit verging und die Gemeinsamkeiten beschränkten sich auf ein flüchtiges „Guten Morgen“ oder eine andere Tageszeitansage.

Es vergingen Tage, Monate und Weihnachten stand wieder vor der Tür. Beide hatten eigentlich nicht viel mit Weihnachten im Sinn, und so ließen sie die Weihnachtszeit – wie in den vergangenen Jahren auch – kommen und wieder gehen ohne Anteil an der Freude der Menschen zu haben.

Doch halt, der etwas Lustigere von beiden beschloss in diesem Jahr etwas anders zu machen. Er war es leid nur zuzuschauen, wie die anderen sich vorbereiteten und – auch wenn es stressig aussah – irgendwie glücklich wurden.

Er erinnerte sich, wie schön seine Kindheit insbesondere zu Weihnachten war und er erwog wenigsten ein bisschen Weihnachten zu feiern, wenn auch nicht viel, aber doch ein kleines bisschen. Er würde sich beim nächsten Mal einen Weihnachtsbaum wünschen; ja, einen richtigen Weihnachtsbaum mit Lametta, Glaskugeln, einem Engel, Strohsternen und einer dicken, großen Weihnachtsbaumspitze auf dem Baum.

Als der Lustigere den Ernsteren zufällig auf dem Flur traf und der Ernstere sein „Guten Morgen“ mehr gemurmelt als gesprochen hatte, fasste der Lustigere all seinen Mut zusammen und setzte zum Entsetzen des Ernsteren das Gespräch fort.

„Ich werde mir einen Weihnachtsbaum wünschen,“ platzte es aus ihm ohne Vorwarnung und ohne weitere Erläuterung heraus.

Der Ernstere sah noch ernster aus und überlegte, wie er auf diese Unverschämtheit reagieren sollte. Weil er nichts Falsches sagen wollte, drehte er sich um und verschwand mit einem lauten Türknaller in seinem Zimmer.

Der Lustigere war leicht betrübt, lies sich jedoch nicht von seinem Vorhaben abbringen und wünschte sich einen Weihnachtsbaum, der mit großem TamTam in seinem Zimmer aufgestellt wurde. Er war so wunder-wunderschön; groß und ebenmäßig gewachsen, mit bunten Glaskugeln und vielen Lamettastreifen und Strohsternen behangen.

Der Lustigere spürte den Hauch des Glücks in sich aufkeimen. Aber er stand mit gemischten Gefühlen ob der Ernsthaftigkeit des Ernsteren in seinem Zimmer.

„Wenn er wenigstens nicht böse auf mich wäre,“ überlegte der Lustigere, „dann könnte ich den Anblick des Weihnachtsbaums ohne Reue genießen.“

Beim nächsten zufälligen Flurtreffen machte der Lustigere einen erneuten Vorstoß und plärrte nach dem „Guten Abend“ des Ernsteren durch den Flur: „Willst du dir nicht auch einen Baum wünschen?“

Der Ernstere sah noch viel ernster aus als beim ersten Mal, verkroch sich in sein Zimmer und sprach vor sich hin: „ Nein, ich will keinen Weihnachtsbaum, die sind dreckig, die nadeln, die stinken, die verunstalten nur mein Zimmer; Nein, Nein, Nein, ich will keinen Baum haben und damit basta!“

Der Lustigere hörte das gezeter durch die Wand und legte sich einen Plan für das kommende zufällige Treffen bereit, das bald folgte. Zu dieser Gelegenheit fragte der Lustigere den Ernsteren, nach dessen „Guten Tag“, „Erinnerst du dich noch an die Weihnachtsfeste unserer Kindheit, wie wir zusammen unter dem Weihnachtsbaum saßen und unsere Eltern anschauten, während sie uns beobachteten wie wir den Weihnachtsbaum beschauten und die wenigen aber von Herzen kommenden Geschenke herzigten?“

Der Ernstere blieb ernst, aber sprach: „Ja.“

Der Lustigere hatte das Gefühl weiter sprechen zu dürfen und setzte fort: „Möchtest du dir nicht auch einen Weihnachtsbaum wünschen?“

Der Ernstere blieb ernst, aber sprach: „Ich kann nicht.“

„Wieso?“

„Die machen Dreck, und verschandeln das ganze Zimmer. Außerdem können sie brennen, wenn man nicht aufpasst?“

„Deine Sorgen rühren von unterdrückten Gefühlen her,“ sagte der Lustigere und setzte nach „Was du als brennenden Baum benennst, verbildlicht den Schmerz deiner leidenden Seele!“

Die Miene des Ernsteren wurde bitter ernst. Diesmal ohne Türknaller ging er in sein Zimmer zurück und dachte nach.

Beim nächsten zufälligen Flurtreffen bot der Lustigere dem Ernsteren an: „Wenn du keinen eigenen Weihnachtsbaum haben möchtest, dann werde ich meinen mit dir teilen.“

Der Ernstere blieb ernst, aber sprach: „Der steht doch in deinem Zimmer, wie sollten wir uns diesen teilen?“

„Wir bohren ein kleines Loch in die Wand. Du kannst von deiner Seite ein Bild davor hängen und nur wenn du Lust hast, dann hebst du das Bild an und besiehst dir den Weihnachtsbaum.“

Der Ernstere blieb ernst, aber sprach: „Ich werde darüber nach denken.“

Beim nächsten zufälligen Flurtreffen blieb die Tageszeitansage des Ernsteren aus. Stattdessen sagte er: „Aber nur ein ganz kleines Loch bitte.“

Der Lustigere bohrte das kleine Loch und fragte beim nächsten Mal wie es so steht mit dem Ernsteren.

„Jaaaa, ich kann ein paar grüne Zweige und einige bunte Kugeln sehen,“ antwortete dieser.

„Sollen wir das Loch etwas vergrößern, so dass du mehr sehen kannst?“

Der Ernstere war etwas weniger ernst und sagte: „Aber nicht zu groß, schließlich soll das Bild das Loch verdecken können.“

„Ich glaube es geht gerade noch, wenn wir einen Ziegelstein heraus nehmen,“ sagte der Lustigere.

Der Lustigere nahm einen Ziegelstein heraus und fragte beim nächsten Treffen: „Ist es recht so?“

Der Ernstere zwischenzeitlich nicht mehr ganz so ernst antwortete: „Ich sehe bereits einen großen Teil von dem Baum und muss sagen ich genieße das was aus deinem Zimmer als Stimmung herüberschwappt.“

„Sollen wir das Loch noch ein kleines bisschen vergrößern?“ fragte der Lustigere.

„Aber nur ein kleines bisschen,“ sagte der Ernstere, „sonst kann das Bild das Loch nicht mehr verdecken.“

Als der Lustigere versuchte das Loch etwas zu vergrößern, stürzte die Wand ein und beide standen betroffen voreinander und schwiegen sich an.

Das Schweigen dauerte so lange, bis der Ernstere, der mit Blick in Richtung Weihnachtsbaum stand, bemerkte: „Wir müssen die Kerzen löschen, sonst verbrennt unser Weihnachtsbaum.“

Die Zeit wurde schöner, der Lustigere und der Ernstere lebten nun wieder in einem Zimmer, genau wie damals. Auch verwischten die Spuren und die Unterschiede zwischen ihnen. Mit der Zeit war für einen Außenstehenden nicht mehr zu erkennen, wer der Lustigere und wer der Ernstere von ihnen war.

Sie waren wie früher abwechselnd zwei Seiten der Gedanken des Mannes, dem das Haus im Kopf gehörte, der fortan wieder Freude an der Weihnacht und dem Glücklichsein hatte.

Eine Kurzgeschichte von Dr. Ingo Hoffmann, Wuppertal im Dezember 2003.

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