Aus dem Mund von Helga Trotmann drang noch ein unverständlicher Laut, dann kippte sie vornüber auf den Steuerknüppel und fiel laut schnarchend in einen tiefen Schlaf.
Der Copilot riss den schlafenden Körper mit der einen Hand zurück und zog mit der anderen Hand den Steuerknüppel wieder in die normale Position für den Geradeausflug.
Ein Ruck ging durch die Maschine. Die verängstigten Passagiere wurden mit dem Hinweis auf Turbulenzen beruhigt.
Der Copilot benachrichtigte über das Bordtelefon den Steward. Dieser stürzte ins Cockpit. Ohne zu Fragen half er dem Copiloten die schlafende Helga Trotmann in ihrem Sitz zu fixieren.
Minuten des Schreckens in zehntausend Meter Höhe.
Nach der – trotz allem – glücklichen Landung in Frankfurt blickten Copilot und Steward sich schweigend im Cockpit an. Unausgesprochen bestand Einigkeit, nur um Haaresbreite war die Linienmaschine mit mehreren hundert Personen an Bord einer Katastrophe entkommen.
Bleich und zitternd verließen sie im Strom der nichts ahnenden Passagieren die Maschine und machten Meldung.
Helga Trotmann wachte am nächsten Tag in einem weißen Raum des 19. Polizeireviers am Flughafen Frankfurt auf. Sie trug noch ihre Uniform vom Vortag. Ihr brummte der Kopf und ihre Gedanken rasten wie wild herum. Nichts Greifbares, nichts Klares, nur verschwommene Fetzen huschten vor ihr geistiges Auge.
„Kommen Sie bitte mit“, sagte ein Polizist zu ihr und deutete mit seiner rechten Hand zur Tür. Die liegende Pilotin – sonst sehr redselig – erwiderte nichts.
Ein zweiter Polizist stand im Gang und erwartete sie. Schwerfällig erhob sie sich von der Liege, griff ihre Handtasche und stand wackelig auf den Beinen. Ihr fehlte die Orientierung.
Ohne viele Worte wurde sie durch die verschlungenen Gänge geführt. Ein Polizist vor ihr und einer halb links hinter ihr. Sie taumelte hinter dem vorderen Polizisten her. Ihr Marsch durch das erdrückende Labyrinth der Gänge endete vor einer Tür des Kriminalkommissariats.
Das Gehen stabilisierte ihren Kreislauf, sie fühlte sich etwas besser.
In dem kargen, fensterlosen Vernehmungszimmer empfing sie ein zierlicher Kommissar. „Guten Tag Frau Trotmann. Mein Name ist Kriminalhauptkommissar Fedder. Fühlen Sie sich in der Lage mir ein paar Fragen zu beantworten?“
Die Tür wurde geschlossen, nun waren beide alleine im Raum. Sie setzte sich auf den angebotenen Holzstuhl und lehnte sich müde zurück.
Die dunklen Wände drückten auf ihre Stimmung und ihr zauseliges Abbild in der verspiegelten Scheibe vertiefte die aufkommende Melancholie.
„Was ist passiert?“, begann Helga Trotmann und ergänzte: „Wieso bin ich hier?“
„Nun“, begann Kriminalhauptkommissar Fedder gedehnt und lehnte sich ebenfalls in seinem Stuhl zurück, „die Sache ist nicht einfach zu erklären. Können Sie sich nicht an irgendetwas erinnern?“
Helga Trotmann griff sich an die kalte, schweißnasse Stirn. Sie hatte das Gefühl, dass der Tisch zwischen ihnen beiden das letzte Bollwerk war, was sie vor dem fordernden Habitus des grazilen Kommissars schützte.
Hinter der verspiegelten Scheibe vermutete sie weitere Personen, das steigerte ihre Nervosität.
Sie versuchte sich zu konzentrieren und ging einige Erinnerungen durch: Sie hieß Helga Trotmann, war fünfzig Jahre alt und ledig. Sie hatte keine nahen Verwandten mehr, da ihre Eltern bereits vor einigen Jahren gestorben waren.
Von Beruf war sie Pilotin und der letzte Flug, an den sie sich erinnern konnte, war ein Flug von Madrid nach Frankfurt. Der Start in Madrid war ihr noch präsent.
Und danach, was war danach?, quälte sie sich im Stillen.
Nichts mehr. Gar nichts. Da war einfach nur ein schwarzes Loch im Kopf.
„Nun“, unterbrach der Kommissar ihre Gedanken und gestikulierte mit der rechten Hand drehend in der Luft. Die Gestik erinnerte sie an die Art und Weise, wie jemand jemand anderen auffordert zu reden.
„Ich weiß nichts“, stammelte Helga Trotmann. „Ich kann mich an nichts erinnern. Was ist denn passiert?“
Kurz zuckte sie mit den Schultern von der Stuhllehne nach vorne und sank dann wieder zurück.
Der Kommissar erklärte ihr in allen Einzelheiten den Vorfall vom vergangenen Tag und endete mit der Aussage: „Die Blutuntersuchung gestern nach der Landung ergab, dass sie mehr als drei Promille Alkohol im Blut hatten.“
Helga Trotmann hatte die ganze Zeit fassungslos mit offenem Mund den Ausführungen des Kommissars zugehört. Zwischendurch schüttelte sie den Kopf, so als könne sie die Fakten nicht glauben, die der Kommissar ihr präsentierte.
Eine Nachricht war in ihren Augen sehr bestürzend: Sie war betrunken gewesen und wäre fast verantwortlich geworden für den Tod von hunderten von Menschen. Sie rang um Fassung.
Eine Weile herrschte Schweigen im Raum. Routine für den Kommissar. Er ließ seine Worte wirken.
„Pralinen“, stieß es leise aus ihrem Mund hervor. Mehr nachdenklich geflüstert als erklärend gesagt.
„Was?“, drang es von der anderen Seite des Tisches und ungläubige Augen blickten sie an. „Sagen Sie das noch mal!“
„Ich habe vor dem Abflug Pralinen gegessen.“
„So ein Quatsch. Sie waren sternhagelblau; vollkommen besoffen. Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass sie von Pralinen derart betrunken wurden“, erhob der Kommissar seine Stimme und täuschte Erregung vor.
„Es waren diese Schokoladenpralinen. Die mit Alkohol und Kirsche gefüllt. Die habe ich gegessen“, konterte die Pilotin im Stakkato-Stil, wohl wissend, dass die Pralinen nicht annähernd den von den Ärzten festgestellten Alkoholgehalt in ihrem Blut erklären konnten.
Der Kommissar blickte hol in das Gesicht gegenüber. Er musste vorsichtig sein, damit er den Fall wasserdicht bekam. Das Gestammel durfte er nicht ernst nehmen.
Die Schnapsdrossel wollte ihm einen Bären aufbinden. Er lehnte sich zurück, stützte seine Ellenbogen auf die Stuhllehnen und faltete die Hände vor seinem Mund. Die Lippen schürzte er nach oben. Er dachte nach.
Ein Ventilator drehte sich leise hinter einem Abzugsgitter. In der künstlichen Tischoberfläche spiegelten sich die vielen flimmernden Neonröhren. Das alte Linoleum roch noch etwas nach Bohnerwachs; die Stühle hatten bereits Kerben in den Boden gestanzt.
An einer Wand erkannte die Pilotin deutliche Schlagkerben im Putz. Sie hatte das Bild eines ausrastenden Delinquenten vor Augen, der einen Stuhl an der Wand zerschlug. Das Geräusch des drehenden Ventilators holte sie aus diesem Alptraum zurück. Trotz der Wärme fror sie.
Der Kommissar beugte sich langsam nach vorne, richtete sich auf und stützte die Ellenbogen nun auf dem Tischrand auf. Er legte die Hände übereinander. Der Entschluss sich auf ihre Geschichte einzulassen war kurz zuvor gereift.
„Nehmen wir mal an, es sei so gewesen! Wie viele Pralinen haben Sie denn gegessen?“
„Ich weiß nicht mehr genau, in der vierten Packung waren noch ein paar Pralinen übrig.“
Der Kommissar starrte sie ungläubig an. Noch niemals in seinem Leben war er einem Menschen begegnet, der angab, fast vier Packungen Pralinen gegessen zu haben.
„Vier Packungen?“, wiederholte er leicht aufbrausend in einer ungläubigen Tonlage. „Ist das Ihr Ernst? Das sind sechzig Pralinen!“
„Nicht ganz“, entgegnete Helga Trotmann leise. „Wie gesagt in der vierten Packung waren noch welche übrig.“
In ihm kroch die Wut hoch, die sich aus seinem Ärger über die unverschämte Ausrede speiste. Kommissar Fedder war zwar entschlossen, das Spiel mitzumachen. Er zweifelte jetzt allerdings, ob das wirklich zielführend war. Er musste beweisen, dass die Pilotin Schnaps getrunken hatte.
Alkohol war ihm zuwider. Er trank selten etwas und wenn, dann nur ein kleines Bier zum Essen daheim.
Betrunkene im Verkehr bedeuteten eine Gefahr. Somit war der Auftrag von ´Oben´, sie aus dem Luftverkehr zu ziehen, folgerichtig. Er nahm diesen Auftrag sehr ernst und musste endlich zum Ziel kommen. Daher änderte er seine Strategie und versuchte Ungereimtheiten aufzudecken.
„Wo hatten Sie die Pralinen denn gekauft?“
„Ich habe sie nicht gekauft. Ich habe die Packungen im Flur auf dem Gepäck des Copiloten gefunden.“
Der Kommissar zog den Kopf leicht zurück. Er wechselte die Reihenfolge der übereinandergelegten Hände auf dem Tisch.
„Heißhunger“, ergänzte Helga Trotmann.
Er griff in sein Sakko und zog demonstrativ langsam Papiere hervor. Die zusammengefalteten Papiere wedelte er in der Luft herum.
„Das sind die Aussagen des Copiloten und des Stewards. Wollen Sie Ihre Aussage noch einmal überdenken?“
Helga Trotmann folgte mit verwirrtem Blick den vor ihr schwebenden Papieren.
Was können die schon zu den Pralinen sagen?, dachte sie. Außer, dass sie die Pralinen vielleicht im Eifer des Gefechts zu Unrecht genommen hatte. Aber das war ja kein großes Ding. Sie schüttelte verneinend den Kopf.
„Na schön“, äußerte er seinen Unmut.
Kommissar Fedder war bereit zur Offensive. Jetzt wollte der den Fangschuss setzten.
„Beide, ich wiederhole, beide befragte Personen, gaben gleichlautend zu Protokoll, dass sie bis Mitternacht zusammen mit Ihnen gefeiert hätten. Dann seien die beiden Herren ins Bett gegangen. Allein! Am frühen Morgen aber, hätten die beiden Herren Sie, Frau Trotmann, in der Hotelbar vor einem großen Glas Whisky angetroffen.“
„Das ist eine Lüge!“, zeterte die Pilotin. „Das ist eine verdammte Lüge!“
„Sie lügen!“, bellte der Kommissar los und knallte mit der rechten flachen Hand auf den Tisch.
„Sie lügen! Und zwar gewaltig. Sie erzählen mir etwa von Pralinen und meinen damit durchzukommen.“ Bei diesen Worten pickte er mit dem Zeigefinger in der Luft nach ihr.
„Aber es war so. Ich war nicht in der Bar. Ich habe die Pralinen gefuttert – ja! Wie besessen habe ich die Dinger verschlungen. Süchtig. Wie auf Entzug. Aber ich habe nachts und morgens kein Alkohol an der Bar getrunken.“
Sie versuchte krampfhaft zu ergründen, warum die beiden Crewmitglieder so etwas behaupteten. Bisher waren sie gut miteinander ausgekommen. Wieso also der Vorwurf, sie hätte Alkohol getrunken?
Natürlich wusste sie aus eigener Erfahrung, dass zu viele Pralinen einen Schwips verursachen können, aber einen Vollrausch hatte sie noch nie gehabt.
Helga Trotmann liebte Pralinen über alles, doch im Moment waren sie ihr zuwider. Ihr Magen rebellierte.
Der Kommissar erweiterte seine Offensive. Er kramte sein Smartphone aus der Tasche und recherchierte im Internet.
Sein Zitat durchschnitt das Schweigen: „Nach dem Verzehr einer Packung Pralinen wurde bei einer sechzig Kilogramm schweren Testperson ein Blutalkoholgehalt von knapp einem drittel Promille gemessen. Also bei fast vier Packungen etwa ein Promille.“
Die Pilotin war überrascht. Das war mehr als sie selber vermutet hatte. Sie verzog die Mundwinkel nach unten.
„Wie schwer sind Sie?“
Helga Trotmann wurde rot. Sie war für eine Pilotin etwas klein und leicht untersetzt.
„Neunzig“, entfuhr es ihr schmallippig.
„Dreisatz“, erwiderte der Kommissar fachmännisch und revidierte das Ergebnis wegen des höheren Gewichts nach unten.
„Also, bei Ihrem Gewicht würde ich nach vier Packungen Pralinen ein Blutalkoholgehalt von deutlich unter einem Promille erwarten. Keinesfalls drei Promille.“
Die Worte schwangen zu ihr rüber. Er wartete. Sie sagte nichts.
Die Pilotin filterte die Informationen. Sie hatte nur Pralinen gegessen und definitiv keinen Alkohol getrunken. Rein rechnerisch, das glaubte sie dem Kommissar, hatte sie somit weniger als ein Promille Alkohol im Blut gehabt. Das war viel, aber es erklärte nicht den Vollrausch mit über drei Promille Alkohol. Wieso, so fragte sie sich, war der Alkoholspiegel so hoch?
„Kommen Sie“, sagte der Kommissar verschwörerisch und der Good-Cop kam bei ihm durch. „Geben Sie es zu, sie haben getrunken.“
Seine Unterarme lagen auf dem Tisch und er öffnete beide Handflächen in ihre Richtung, wobei er seine Stirn faltig und die Augenbrauen hochzog, so als wollte er mit der Gestik fragen, war es nicht so?
Helga Trotmann saß nahezu die ganze Zeit regungslos an der Lehne ihres Stuhles. Eine eingeschränkte Körpersprache zeichnete sie aus.
Das leise Geräusch des drehenden Ventilators füllte die Stille.
„Glauben Sie mir, ich habe nur Pralinen gegessen“, bekräftigte die Pilotin ihre Aussage.
Der Kommissar atmete hörbar aus und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Einige Pralinen aus der letzten Packung schmeckten allerdings irgendwie komisch.“
Nach vier Packungen würden mir die letzten Pralinen auch komisch schmecken, dachte der Kommissar.
Angestrengt sann er weiter nach, wie er denn nun das Geständnis unterschrieben bekam?
Die Vernehmung drehte sich im Kreis. Der Ventilator gab den Takt. Eine Neonröhre gab ihren Geist auf und erlosch. Ein schlechtes Omen, dachte der Kommissar, denn er wartete sehnsüchtig auf einen Geistesblitz.
In einem Hotelzimmer am Airport Frankfurt saßen der Copilot und der Steward zusammen.
„Warum musste diese Verrückte auch die ganzen Pralinen futtern?“, sinnierte der Steward und ergänzte vorwurfsvoll: „Wieso hast du Vollidiot die Pralinen überhaupt auf Deinem Gepäck liegen gelassen?“
„Ich konnte doch nicht wissen, dass diese Bekloppte sich alle vier Packungen reinschraubt!“, verteidigte sich der Copilot ohne auf die Frage einzugehen.
Der Steward holte für die nächste Beleidigung Luft, doch bevor er etwas sagen konnte, ergänzte der Copilot: „Sei froh, dass sie alle gegessen hat und die Dinger weg sind. Sonst könnten wir uns auf etwas gefasst machen.“
Der Steward blickte ihn ärgerlich an.
„Du hättest sie davon abhalten sollen, nachdem Du sie mit den offenen Pralinenschachteln erwischt hast“, warf er dem Copiloten vor und resümierte weiter: „Sie hätte hopsgehen können.“
Der Copilot bekräftigte mit mahnend erhobenem Zeigefinger: „Wenn sie nicht alle Pralinen gegessen hätte, wären wir hopsgegangen.“
Das ‚Wir‘ betonte er und fuchtelte mit der Hand zwischen ihnen beiden herum. Abwechselnd mal auf sich und mal auf den Steward zeigend.
„Irgendjemand hätte die feine Einstichstelle der heißen Kanüle im Dekor der drei präparierten Pralinen entdeckt. Wenn nur eine der drei Pralinen übrig geblieben wäre, dann wäre Feierabend gewesen und wir hätten uns wegen Drogenschmuggel verantworten müssen“, ergänzte er.
Der Steward wog bedächtig den Kopf und musste dem Copiloten Recht geben. Jetzt zeigte die ganze Welt auf Helga Trotmann und sie waren fein aus der Sache raus.
Der Kommissar blickte im Vernehmungsraum des Kommissariats die Pilotin auffordernd an.
Dadurch fühlte sie sich genötigt zu wiederholen: „Irgendwie schmeckten einige von den letzten Pralinen komisch und anders als die anderen.“
„Wie komisch?“, setzte er reflexartig nach.
„Naja, eben nicht typisch nach Kirsche.“
Sie strich sich mit der flachen rechten Innenhand über den Mund und der Daumen zog an der Wange herunter.
„Warten Sie“, sagte die Pilotin, „eine Praline habe ich vermutlich noch in der Tasche.“
Sie beugte sich etwas hervor und kramte eine Praline aus der Handtasche.
„Die können Sie gerne analysieren lassen.“
Das würde ewig dauern, bis herauskam, dass das eine stinknormale Praline mit Kirschlikör war, dachte er. Der Kommissar war stocksauer. Aber er ließ sich äußerlich nichts anmerken.
Beweismaterial hin oder her, er nahm die Praline an sich, öffnete die Folie, ignorierte sämtliche Vorsichtsmaßnahmen und legte sich die Praline in den Mund.
Die Pralinen Lüge würde er sofort entlarven, da war er sicher und wenn nicht, hatte er immer noch die Aussagen des Copiloten und des Stewards. Er war felsenfest davon überzeugt, diese Schnapsnase irgendwie zur Strecke zu bringen.
Als die Praline im Mund schmolz, ergoss sich etwas über seine Zunge, das überhaupt nicht nach Kirsche schmeckte.
Nach ein paar Sekunden hatte er den ekeligen, flüssigen Inhalt geschmacklich als Droge identifiziert. Einen Teil der Flüssigkeit hatte er bereits verschluckt, den Rest spuckte er hastig auf das Linoleum. Hustend blickte er sie an und fragte sich, wie man davon nur vier Packungen essen kann?
Er erahnte an dem Geschmack, was wirklich in den Pralinen war: High-Speed-Designerdrogen neuester Machart, die nicht nur die Botenstoffe im Gehirn durcheinander bringen, sondern auch die Alkoholkonzentration im Blut hochtreiben.
Das war einer seiner letzten klaren und zusammenhängenden Gedanken. Sehr rasch wurden die in seinem Blut gespeicherten Kohlehydrate durch die widerstandsfähigen Hefezellen und Enzyme der Droge in Alkohol umgewandelt.
Ihm wurde dusselig. Die Augen drehten im Takt des Ventilators. Sein Umfeld verschwamm.
Der Tisch vor ihm fühlte sich weich wie ein Polster an. ‚Sofa‘, schoss ihm zusammenhanglos durch den Kopf. Das Neonlicht wirkte anheimelnd und war in seinen Augen bunt; er fühlte sich zurückversetzt in seine Jugend, in die Zeit seiner Diskobesuche.
Eingebettet in mitfühlende Fragen, klangen die mild gesprochenen Worte der Pilotin für ihn wie bei einem Flirt. Helga Trotmann war plötzlich schön. Er dachte an Tanzen.
Massive Halluzinationen durchschossen für kurze Zeit sein von Drogen verschmiertes Hirn.
Die Entrückung aus dem Hier und Jetzt dauerte nicht sehr lange. Wenige Minuten vergingen. Das Erlebnis war wie ein Blitz; ein heftiger Blitz.
Der Kommissar klatschte sich mit der Hand ins Gesicht, um den Alptraum zu beenden. Die Realität um in herum nahm in seinem Kopf schnell wieder geordnete Konturen an.
Erst sammelte er seine Gedanken und danach die Aussagen der beiden Herren zusammen.
Er wusste nun ganz genau, was zu tun war. Im Fokus seiner Ermittlungen standen nun der Copilot und der Steward. Die Wahrheit hinter der Pralinen Lüge würde er durch diese Herren erfahren, das stand für ihn fest.
Nach dem Abschied ging er zur Tür und blickte noch einmal die Pilotin respektvoll an. Neunzig Kilogramm und ihr Pralinen-Training haben ihr vermutlich das Leben gerettet, sinnierte er.
Sie wird sich höchstwahrscheinlich wegen der Pralinen-Fressattacke verantworten müssen. Aber das war eine Anschuldigung, bei der die Pilotin ein geringeres Strafmaß zu erwarten hat, da war er sicher.
Vier Packungen von diesem höllischen Zeug, hämmerte es beim Griff zur Tür in seinem Kopf. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, wie jemand eine derart hohe Dosis dieser Droge schadlos überstehen konnte. Bei dem Gedanken schüttelte es ihn heftig am ganzen Körper. Sanft schwang die Tür hinter ihm zu und fiel ins Schloss.
Eine Kurzgeschichte von Dr. Ingo Hoffmann, Wuppertal im Juni 2015.